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Als Hiesiger unter Russlanddeutschen

Lehrerzimmer, große Pause. Mein Kollege und Sitznachbar starrt auf mein selbstgestaltetes, frisch gedrucktes Arbeitsblatt voller Piktogramme und anderer fancy Designelemente. Sein trockener und entlarvender Kommentar: „Man merkt, dass du noch keine Kinder hast“.

Solch eine Bemerkung entspringt einerseits dem natürlichen Erfahrungsvorsprung eines Mitmenschen, andererseits aber auch einer besonderen Lebensweise einer faszinierenden Kultur, mit der ich seit einigen Jahren viele Berührungspunkte habe und der ich heute diesen Blogpost widmen möchte: die sogenannten „Russlanddeutschen“. Diese kamen nach einer bewegten Geschichte voller Ächtungen und Verfolgungen vor allem nach der Wende nach Deutschland und wurden unter anderem in Ostwestfalen, wo ich gerade arbeite, angesiedelt. Menschen mit russlanddeutschen Migrationshintergrund werden vom BAMF als „geräuschlos integriert“ eingestuft und fallen tatsächlich sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der persönlichen Begegnung auf den ersten Blick kaum auf – sie gehen fleißig ihrer Arbeit nach, verwirklichen den deutschen Traum des Einfamilienhauses und akzentfreies Deutsch ist v.a. für die jüngeren Generationen schon lange kein Problem mehr. Doch was macht sie dann für einen „Hiesigen“, wie ich im Russlanddeutschensprech genannt werde, so besonders?

Dieser Frage möchte ich hier nach nachgehen und dabei einen konstruktiven Blick auf die Dinge lenken, die wir „Hiesigen“ vielleicht von ihnen lernen können. Die folgenden Beobachtungen entbehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage und fußen einzig und allein auf Begegnungen, die ich in Gemeinde, in Zeltlagerarbeit aber vor allem jetzt an einer christlichen Schule in Ostwesfalen mit all den (F)Riesens, Janzens, Epps, Klassens, Dycks oder Penners (häufige russlanddeutsche Familiennamen) dieser Welt gemacht habe.

1.) Mut, anzufangen

Der eingangs angeführte Kollege ist kaum älter als ich, hat schon mehrere Kinder, richtet sein neues Haus ein und jongliert nebenbei etliche Aufgaben in seiner Kirchengemeinde. Damit ist er nicht alleine: Ein anderer Kollege wünschte mir zur Hochzeit augenzwinkernd 12 Kinder; zwei Kinder seien ja noch keine Erfüllung des Befehls „Seid fruchtbar und mehret euch“.

An der Schule, an der ich gerade arbeite, haben viele Russlanddeutsche die soziologischen Meilensteine – Heirat, Job, Kinder, Haus – in einem Rekordtempo durchlaufen. Als frisch verheirateter kinderloser 29-Jähriger, für den ein Haus gerade kaum vorstellbar ist, bin ich ein Exot (während unter meinen Uni-Freunden meine frühe Heirat eher exotisch anmutete).

Woran liegt das? In vielen russlanddeutschen Freikirchen wird, so wird mir erzählt, ein idealer Lebensverlauf propagiert und reproduziert – nicht lange fackeln, sondern schnell loslegen.  Als  Prototyp eines Millenials, der viel Zeit zur „Selbstfindung“ brauchte und vor Entscheidungen und allzu großer Verantwortungsübernahme tendenziell eher zurückschreckt, finde ich die im Vergleich völlig konträren russlanddeutschen Lebensbiographien enorm bemerkenswert.

Einer meiner guten russlanddeutschen Freunde, der nicht nur auf dem Bild gut anpacken kann und auch sonst einigen dieser Beschreibungen entspricht 🙂

Während ich jahrelang über Partnerschaft grübelte, plante ein russlanddeutsches Pärchen wahrscheinlich gerade ihre Hochzeit mit 300 Gästen. Als ich mich im Studium am WG-Küchentisch in komplizierte theologischen oder politischen Fragen verlor, brachte ein gleichaltriger russlanddeutscher Mann vermutlich zeitgleich seine Kinder zu Bett oder plante seine Predigt für eine der vier Gemeinde- oder Jugendstunden am Wochenende.

Auch wenn ich glaube, dass mein Lebensverlauf so schon ganz gut war und ich tatsächlich etwas Zeit zur Selbst- und Welterkundung brauchte, bin ich erstaunt, wie zupackend und zuversichtlich viele Russlanddeutsche ihre Lebensplanung angehen. Sie schaffen es irgendwie, Familie und Beruf erstaunlich frühzeitig unter einen Hut zu bringen und sind mit Ende 20 meistens schon da, wo andere erst 10-15 Jahre später stehen – mit kleiner Familie, einer soliden Arbeit an einem festen Wohnort mit einem engen sozialen Netzwerk. Schließen sich viele Russlanddeutsche zusammen, trauen sie sich teils noch Größeres zu: riesige Gemeindehäuser, Großveranstaltungen, Ferienlager oder ganze Schulen haben sie schon in Eigenregie aufgezogen. Wo das handwerkliche Geschick fehlt, was eher selten vorkommt, wird sich mit YouTube-Videos beim Bau weitergeholfen, wie mir eine Freundin zuletzt erzählte. Ich wünschte mir manchmal, ich könnte so scheinbar unbekümmert wie meine Kollegen mein Leben anpacken: Nicht zu sehr auf perfekte Umstände warten, sondern anfangen, wo es dran ist.

2.) Familiärer Zusammenhalt

Ein Grund, warum Russlanddeutsche so früh so viel schaffen, liegt vermutlich an dem engen familiären Zusammenhalt, der sie zusammenkittet und gleichzeitig auch befähigt, mehr zu tun als ein glückseliges Pärchen, welches weitestgehend unabhängig vor sich hin lebt. Dieser Zusammenhalt kommt zunächst durch geographische Nähe zustande: Russlanddeutsche ziehen meist nicht weit weg von ihren Familien – fast alle meine Kollegen haben an den umliegenden Universitäten Ostwestfalens (meist zu Hause wohnend) studiert und haben Eltern, Cousins und andere Verwandte in Fahrweite.

Auch wenn mir meine eigene Familie unendlich kostbar ist und ich sie sehr genieße, wohnen wir leider doch alle weit voneinander entfernt – nach Berlin, Ostfriesland, Hamburg und Oldenburg fährt man nicht eben auf einen Kaffee. So etwas erschwert selbstredend Besuche, Babyparking und Bau-Hilfe.

Familie hat, so wirkt es auf mich, in der russlanddeutschen Lebenswirklichkeit einen besonderen Stellenwert, die für westlich geprägte Hiesige nur schwer zu greifen ist. Russlanddeutsche Eltern werden besonders geehrt, in den zumeist kinderreichen Familien helfen ältere Geschwister den jüngeren und ein beachtlicher Teil des Soziallebens wird für diverse Verwandschaftsbesuche, Hochzeitsevents, Cousin-Treffen und dergleichen verwendet. Das mag für jemanden wie mich, der seine erweiterte Familie leider nur sehr sporadisch sieht, etwas befremdlich und vielleicht auch einengend oder aufwändig wirken, aber gleichzeitig sehe ich auch viel gutes Potential in familiärer Verbundenheit, die sich nicht nur auf gelegentliche Treffen und Telefonate mit der Kernfamilie beschränkt.

3.) Selbstverständliches Dienen

Pelmeni – leckere Teigtaschen (Bild von chefkoch.de)

„Passt mir das gerade?“ „Ist diese Aufgabe meine Berufung?“ „Achte ich gerade auch genug auf meine Bedürfnisse?“ Das sind typische Fragen, die wir in der heutigen Zeit stellen, wenn wir für eine bestimmte Aufgabe angefragt werden. Wir sind (so scheint mir) so achtsam, unverbindlich und vorsichtig geworden, dass ein Abspüldienst in der Gemeinde oder eine Umzugshilfsanfrage uns gerade wahlweise zu viel oder zu banal erscheint. In der russlanddeutschen Mentalität scheint ein ganz ein ganz anderer Tenor zu herrschen. „Du brauchst Hilfe? Wann soll ich vorbeikommen?“ „Ihr heiratet? Wie viele Kuchen soll ich machen?“ „Hunger? Wie viele Pelmeni willst du?“ Helfen ist eher eine Selbstverständlichkeit, Dienst eine Grundhaltung. Kaum einer scheint sich für Aufgaben zu schade, fast jede/r packt mit an.

Wie viel Hilfsbereitschaft dabei wirklich intrinsischer Motivation entsprießt oder nur von außen erwartet wird, kann ich als Außenstehender nicht sagen. Aber es ist erstaunlich, mit wie viel Selbstlosigkeit sich geholfen wird. Wer bei einer Hochzeitsausrichtung oder dem eigenen Hausbau eine russlanddeutsche Gemeinde im Rücken hat, kann auf viele fleißige Hände zählen. Ich persönlich habe auch schon davon profitiert und immer wieder an verschiedenen Lebensstationen Hilfe in Form von Reparaturen, Gastfreundschaft, Leihobjekten oder Mahlzeiten bekommen, meist mit einem Lächeln und einem guten Spruch dabei.

Natürlich hat auch alles seine Kehrseite – von außen erwartete Lebensentwürfe können Druck erzeugen, die Sippschaft und Gemeinde kann nach außen hin abgeschottet sein, erwartete Hilfsbereitschaft kann erdrückend sein. Russlanddeutsche sind auch nur Menschen und so kommen auch hier allerlei Probleme und Konflikte vor. Ich höre Geschichten von Generationskonflikten, Tabuisierung bestimmter Themen, schwierigen familiären Erwartungen, angstbesetzter Theologie, Ausbrüchen von Individuen. Die Lebensmelodie so mancher Russlanddeutschen scheint eher in Moll- als in Dur gesungen zu werden, zuweilen scheint eine (auch geschichtlich bedingte) melancholische Wolke über den Gesprächen und Blicken zu schweben. Ich will keine Romantisierung einer Kultur und Gruppe betreiben, die mir letztlich fremd bleibt und die ich nie vollumfänglich verstehen werde. Aber ich will das Gute, was ich sehe, als Ansporn und Inspiration für mein eigenes Leben betrachten.

„Prüfet aber alles, und das Gute behaltet.“ – 1. Thessalonicher 5,21

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