Am Montag soll ich eine Andacht in meiner ehemaligen christlichen Hochschulgruppe halten. Die Themenwahl: frei. Was soll ich sagen? Was ist dran? Puh…
Obwohl die Themenfindung für mich noch nie eine einfache Aufgabe war, wird sie seit ein paar Jahren für mich durch einen zusätzlichen Gedanken erschwert: Ich habe das Gefühl, alles ist schon gesagt.
Seit fast drei Jahrzehnten bewege ich mich in christlichen Zirkeln und habe mittlerweile unzählige Variationen gleicher Botschaften gehört:
- Du bist wertvoll.
- Vertraue Gott. Er ist gut.
- Mach Stille Zeit.
- Mach dir keine Sorgen.
- Nutz deine Gaben. Geh die zweite Meile.
- Raus aus der Komfortzone. Aufs Wasser mit dir.
- Raus aus (je nach Denomination:) der Sünde/ Schuld/ Was-dich-zurückhält/ Gebundenheiten
Abgesehen davon, dass man all diese Dinge einfach mal glauben und praktizieren sollte, fällt es mir zunehmend schwer, Begeisterung für Predigten und Andachten zu empfinden, die für mich persönlich kaum Neuigkeitswert haben und deren Fazit schon nach 2min absehbar ist. Dass die Predigt meist eingerahmt ist in Lobpreismusik, die bestimmten Formeln zu folgen scheint, trägt auch nicht unbedingt zu einem „Frischeerlebnis“ bei.
Aber das Gefühl, alles schon mal gehört zu haben, ist nicht auf die christliche Gemeinde beschränkt. Auch aus Hollywood höre ich stets die gleichen Botschaften:
- Sei du selbst.
- Deine Umgebung und die Gesellschaft versteht dich nicht. Aber du… bist besonders.
- Kämpfe hart, sei ein Held.
- Folge deinen Träumen.
All das langweilt mich. Also schaue ich mir seit ein paar Jahren lieber Arthouse-Dramen an. Anfangs begeisterten mich die vielschichtigen Charaktere, die unaufgeregte Handlung, die subtilen Unterhaltungen, das feine Auge fürs Menschsein. Aber nach einer Weile entdecke ich auch hier wiederkehrende Muster:
- Das Leben ist schwierig.
- Menschen sind zerbrochen.
- Es gibt nicht immer ein Happy End.
- Mach irgendwie das Beste draus.
Ich will nicht zynisch sein. All das hat seinen Platz und viele dieser Botschaften haben einen wahren Kern und können hilfreich, gut oder einfach schön sein. Aber je mehr ich lese, sehe und höre, desto mehr frage ich, ob ich überhaupt irgendwas Originelles beizutragen habe. Selbst meine Reflexionen hier auf dem Blog sind letztlich auch nicht sonderlich innovativ: Das Leben hat Phasen. Umbrüche sind nicht einfach. Wir können von Anderen lernen. Mit etwas Distanz betrachtet: Ein Endzwanziger schreibt über sein ach-so-spannendes Leben.
Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurden alle meine Gedanken schon von anderen gedacht und auch schon von anderen festgehalten, ob in Blogs, Büchern oder Shakespeare-Sonneten. Selbst diese Gedanken über Originalität sind nicht originell (siehe hier). Eigentlich könnte mein Blog auch daraus bestehen, nur auf Leute zu verlinken, die ähnliche Gedanken wie ich haben.
Und wer nicht so sehr auf viele Worte und lange Gedankengänge steht (der liest diesen Text gerade wahrscheinlich sowieso nicht), für den habe ich zwei schöne Fotocollagen, die zeigen, wie herrlich unoriginell wir alle im Urlaub oder vor der Kamera sind:
Wir sehen: Ich bin nicht originell. Du wahrscheinlich auch nicht. Wir sind alle nicht so besonders und so innovativ, wie wir uns gerne sehen.
Hier zu enden fände ich aber traurig. Mein Blog soll, so pathetisch es sein mag, den Anspruch haben, aufzubauen und zu ermutigen und nicht nur Probleme darzustellen. Also:
1.) Deine Perspektive zählt
Deine Kombination aus Alter, Herkunft, Geschlecht, Bildung, Beruf, Interessen, Geschwisteranzahl und tausend anderen Faktoren hat das Potential, (halbwegs) originelle Gedanken hervorzubringen. Auch wenn andere Leute schon mal über Liebe, Bürden oder Jahresrückblicke geschrieben haben, haben sie nicht deine Perspektive auf diese Dinge. Vielleicht bringst du einen besonderen Sprachwitz mit, den nicht jeder hat. Oder eine besondere Ehrlichkeit. Oder einen Erfahrungshorizont, der neue Aspekte des Themas beleuchtet. Vielleicht hast du eine Geschichte erlebt, die eine bekannte Fragestellung in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Neulich las ich in einem Andachtsbuch eine Analogie, die mir ein altbekanntes Thema neu nah gebracht hat. Ich glaube wir müssen ringen nach diesen kleinen Nischen, Erfahrungen und Erzählungen, die Altes neu beleuchten.
2.) Beziehungen sind manchmal wichtiger als Originalität
Es ist etwas Anderes, wenn mir ein guter Freund oder die eigene Mutter etwas von Herzen sagt, was nüchtern betrachtet ein entfernter amerikanischer Motivationsguru oder ein toter römischer Philosoph schon so ähnlich gesagt hat. Als Beziehungswesen hören wir mehr auf die, die uns nahestehen.
Ob etwas originell und kitschig ist, liegt also nicht unbedingt nur am Inhalt, sondern, so glaube ich, an dem Beziehungs- und Kommunikationskontext einer Botschaft. Konkretes Beispiel: 95% meiner Blogleser sind Freunde oder Bekannte. Ich wage mal die Vermutung, dass viele die Beiträge lesen, weil sie mich kennen und das Geschriebene so besser einordnen können. Sie könnten ähnliche und originellere Gedanken zu den Anliegen, die mir wichtig sind, auch woanders in den Untiefen des Internets lesen; aber erst die Beziehung schafft vermutlich ein Grundinteresse.
Das lässt sich auch beliebig auf Lehrer, Pastoren oder andere Vermittlerrollen übertragen. Lehrmaterialien oder Predigten gibt es zu Haufe im Internet, aber wir vertrauen eher mehr denen, die leibhaftig vor uns stehen.
3.) Andere sind noch nicht so weit wie du
Über den Jahreswechsel habe ich auf einer Freizeit mit Iranern und Chinesen in Kleingruppen Bibeltexte gelesen, die für sie völlig neu waren. Ihre Neugierde, vielen Fragen und ihre eigenen kulturellen Perspektiven waren sehr erfrischend. Nur weil ich schon vieles gehört und gesagt habe, heißt es nicht, dass es allen Anderen so geht.
Gestern stellte ein Schüler seine Facharbeitsidee vor – Steve Jobs und der amerikanische Traum. Darüber haben schon viele schlaue Leute viele schlaue Sachen geschrieben, aber er eben noch nicht. Letztlich ist das ein Teil der Bildung – Anderen auf einem Weg zu helfen, die selbst noch nicht so weit sind. Das ständige Streben nach „Neuem“ ist zuweilen auch egoistisch, da es den Blick auf den Anderen verstellt. Oft ist es wertvoller, weiterzugeben und zu dienen, statt nur selbst intellektuell oder geistlich gekitzelt werden zu wollen.
4.) Sei demütig
Luise und ich haben am Montag unser halbjähriges Ehejubiläum gefeiert und rumgescherzt, wir könnten doch jetzt auch ein Ehebuch schreiben und Seminare anbieten. Viele – besonders amerikanische – Paare scheinen diesen Impuls zu haben, ihre Ehevision und ihre Kommunikations- und Konflikttips zu verbreiten. Wer viele solche Bücher studiert, merkt schnell, dass andere Menschen auch gute Ideen, Sichtweisen und Ratschläge haben und meine weisen Einblicke längst von anderen gelehrt werden. Ich brauche nicht der Oberlehrer oder Inspirationsmeister sein, sondern kann erstmal von Anderen lernen.
Auch der Blick in die Geschichte kann demütig machen. Viele politische & gesellschaftliche Ideen wurden schon ausprobiert, Wert- und Weltvorstellungen formuliert und Debatten bereits geführt.
Mit dem Wissen, was schon alles geschrieben wurde, kann ich demütiger Vorschläge machen, an Tiefe gewinnen, nuanciertere Ideen entwickeln und Klischees und Phrasendrescherei vermeiden.
5.) Mit einem leeren Blatt anfangen
Dieser Punkt widerspricht ein Stückweit dem vorherigen. Manchmal kann es für die eigene Kreativität und Authentizität hilfreich sein, alle bisherigen Kenntnisse, Bücher, Filme und Meinungen auszublenden und einfach mit einem weißen Blatt Papier anzufangen und zu überlegen:
- Was denke ich wirklich darüber?
- Was sagt dieser Bibeltext wirklich?
- Was habe ich wirklich für Erfahrungen mit X gemacht?
- Worum geht es mir eigentlich?
Es kann sein, dass man zu den gleichen Erkenntnissen kommt, die man ohnehin schon hatte oder die der Mehrheitskultur entsprechen. Aber zumindest wurde dann das „Produkt“ – sei es eine Predigt, ein Video, eine Unterrichtsstunde – wirklich durchdacht und authentischer.
6.) Wiederholung hat ihren Platz
Selbst wenn viele Andachten, Filme oder Blog-Posts unoriginell und redundant sind – Wiederholung hat ihren Platz. Es ist eine Illusion zu glauben, wir wären vernünftige Wesen und mit einmaligen Einsichten würden wir weise und inspirierte Leben voller Gottes-, Nächsten- oder gar Feindesliebe führen.
Nicht umsonst gibt es im Kirchenkalender viel Platz für Wiederholung – Ostern, Weihnachten; ja jeder Sonntag ist eine Rückbesinnung. Der Atheist Alain de Botton hat sich deshalb sogar einmal in diesem TED talk dafür ausgesprochen, dass eine säkularisierte Welt Rituale und Wiederholung braucht statt stets nur Neues.
So bin ich getrost, dass wir uns doch alle gegenseitig etwas zu sagen haben, auch wenn wir nicht immer so einzigartig und kreativ sind, wie wir glauben. Das gibt mir Mut für Montag und für viele weitere Unternehmungen und Posts in der Zukunft.
Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. – Psalm 139,14