Ich weiß manchmal nicht, was ich beim Thema Corona fühlen soll. Dieser Satz mag seltsam klingen, da Gefühle doch „natürlich“ entstehen sollten und man sich nicht entscheidet, was man wann fühlt. Als eher verkopfter Mensch habe ich aber schon den Eindruck, dass wir nicht schutzlos unseren Gefühlen ausgeliefert sind und grobe Richtungen vorgeben können. Manchmal stehen mehrere „Gefühlsrichtungen“ nebeneinander, ganz besonders in dieser Zeit.
Die ganze Corona-Tragödie löst bei mir und vielen meiner Mitmenschen die unterschiedlichsten Gefühle aus:
- Entsetzen: Über 900 Tote an einem Tag allein in Italien, davon über 50 Ärzte. In Spanien sind es auch schon 800 Tote pro Tag. Insgesamt sind schon 30.000 Menschen an dem Virus gestorben, Tendenz immer noch steigend. Viele Länder sind erst am Anfang. Diese Zahlen sind fürchterlich und stehen für unfassbar großes Leid, welches viele Menschen in allen Erdteilen erreicht. Menschen sterben in rasanter Geschwindigkeit, häufig unwürdig in Massenlagern ohne physischen Beistand ihrer Lieben. Dazu kommen die Existenzängste von Millionen von Menschen, deren Arbeitsplätze bedroht sind. Auch Gesundheits- und Wirtschaftssysteme drohen zu kollabieren, mit dramatischen Folgen für alle Beteiligten. All das löst in mir ein Entsetzen und Betroffenheit aus. Diese Entwicklungen sind in meinem jungen Leben unvergleichbar und machen mich sprachlos.
- Entspanntheit: Es fühlt sich angesichts des riesigen Leids total falsch an, diese beiden Gefühle nacheinander aufzuführen. Und doch kann ich nicht leugnen, dass in meinem persönlichen Leben einiges entspannter geworden ist – der Lehrerberuf fordert mich gerade weniger heraus und auch im Privaten hat sich vieles entschleunigt: Nun habe ich weniger Termine, mehr Zweisamkeit mit meiner Frau, Zeit fürs Kochen, für gute Bücher, Kellerentrümpelungsaktionen, Spaziergänge, Joggen, ausgiebige Telefonate, und Videosessions. Erst gestern saß ich im Südpark mit einem Buch und nickte dabei in der Sonne ein. Bei geschlossenen Augen hörte ich Kindergeschrei, Fußballgeräusche, entspannte Spaziergänger. Ich persönlich bin gerade entspannt wie selten zuvor. Aber darf man das sein, während ein paar Kilometer weiter Ärzte Überstunden schieben und Patienten mit ihrem Leben kämpfen?
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Enthusiasmus: „Hallo, könnt ihr mich hören?“ „Ja, super. Dein Webcam-Bild ist aber scharf!“ „Was habt ihr denn da im Hintergrund für eine cooles Regal!“ Fast jede meiner Skype- oder Zoom-Videokonferenz mit Schülern oder Hauskreis beginnt ähnlich: Die Leute sind angesichts der technischen Möglichkeiten aufgeregt, es liegt Elektrizität und Aufbruchsstimmung in der Luft. Bei der erzwungenen sprunghaften Digitalisierung der Schule und der Kirchen vernehme ich eine Begeisterung über die (scheinbar) neuen Möglichkeiten. Voller Stolz werden mir auf meinen sozialen Kanälen die Livestreams von vielen Gottesdiensten vorgeschlagen. „Vielen Dank, dass wir uns auch auf diese Weise treffen dürfen“ ist ein Gebet, das gerade in keiner digitalen Gebetsrunde fehlt. Auch im Bildungswesen herrscht gerade ein reger Austausch, welche Tools denn besonders gut funktionieren und wie man das denn mit dem Fernunterricht macht. Als großer Technik-Fan bin ich da nicht von ausgenommen, ich probiere gerade viel aus mit meinen Schülern und freue mich, dass nun endlich mehr Leute mitziehen. In der Freizeit haben wir sogar schon einen „digitalen Spieleabend“ ausprobiert.
- Enttäuschung: Corona durchkreuzt alle unsere Pläne:
- Lang ersehnte Urlaube sind nicht mehr möglich.
- Meine Abiturienten mussten auf ihre Mottowoche verzichten, die Abifeier ist noch ungewiss.
- In meinem Freundeskreis mussten schon Hochzeiten, die das Paar monatelange geplant und arrangiert hat, abgesagt werden.
- Eltern von Babies, die jetzt geboren werden, können sich nur mit angezogener Handbremse freuen und erhalten keinen Besuch.
- Eine Freundin von mir bereitete sich monatelange auf ein Tanzturnier vor, was dann doch ins Wasser fiel.
- Mein eigener Geburtstag, der noch vor den ganzen Sperren und Regeln stattfand, war schon dezimiert, jetzt muss man weitestgehend alleine feiern und sich mit WhatsApp-Grüßen und Videos zufrieden geben.
Auch wenn viele dieser Beispiele im Vergleich zu dem Leid in Italien verkraftbar sind, führen sie doch bei vielen zur Enttäuschung.
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Einsatzbereitschaft: Vielleicht keine genuine Emotion, aber dennoch ein starker Impuls bei vielen von uns: Wir wollen uns engagieren, was Gutes tun angesichts all des Leids. In meinen Feeds erhalte ich nun ständig Impulse für die sinnvolle Quarantäne, „Corona-Ermutigungen“, Videobotschaften und dergleichen. Auch Luise und ich haben uns schon überlegt, wie wir als Christen, als Nachbarn, Freunde und Bürger ein Licht sein können in Zeiten von Not, Einschränkungen und Angst. Wir versuchen kleine Schritte zu gehen, auch wenn viele Hilfsideen sich im Alltag gar nicht so leicht realisieren lassen und ich das Gefühl habe, nur von Corona-Ermutigern und nicht von Entmutigten und Hilfsbedürftigen umgeben zu sein.
- Eingeschüchtert: Die Ungewissheit darüber, wie intensiv und lange sich das Virus noch ausbreitet, wann ich endlich wieder richtig unterrichten darf und wie es der Welt und unserem Land in einem halben Jahr geht, kann Furcht auslösen. Auch die ganzen christlichen Ermutigungen und die Freude über den Predigtlivestream können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es aufgrund von Corona vielen Menschen schlecht geht und schlecht gehen wird.
- Erwartungsvoll: Gleichzeitig will ich als Christ daran festhalten, dass Gott die Welt in seinen Händen hält, souverän ist und irgendwie handeln wird, an uns und an mir. Auch in dieser Krise. Ich hadere damit, diesen Punkt aufzuführen, weil er mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Aber ich möchte auf meinem Blog ehrlich über meine Gedanken und Gefühle schreiben, ohne mich selbst zu zensieren. Corona bringt uns Christen in Erklärungsnot, aber ich möchte gewiss sein, dass Jesus in der Not dabei ist und sehne mich nach einem Eingreifen und schneller Milderung.
Entsetzen, Entspanntheit, Enttäuschung. Viele Gefühle überlagen sich bei der Corona-Krise und stehen erstmal widersprüchlich nebeneinander.
Nüchtern betrachtet jedoch ist dieses Gefühlsgestrick leicht zu erklären. Es hängt von der Perspektive ab, welche Emotion bei mir ausgelöst wird. Schaue ich nach Südeuropa, bin ich entsetzt. Lebe ich meinen neuen Alltag im beschaulichen Münster, bin ich entspannt. Schaue ich in in die Zukunft, kann mir Angst und Bange werden. Schreiben meine Schüler ein Padlet voll, bin ich begeistert. Blicke ich auf meine Mitmenschen, will ich was tun.
Die naheliegende Konsequenz wäre nun, die „richtige“ Perspektive zu wählen, damit sich die richtigen Gefühle einstellen. Aber welche Sichtweisen und Emotionen sind in solchen Zeiten schon „richtig“? Ich möchte mir mein Entsetzen erhalten, ich möchte das Leid der Menschen nicht ausblenden, es soll mich ins Handeln und ins Gebet treiben. Gleichzeitig möchte ich die entspannenden Möglichkeiten der Kontaktsperre bewusst als Chance nutzen und auch ein begeisterter Lehrer für meine Schüler sein.
Dieses Nebeneinander von so vielen Gefühlen ist eigentlich kein Spezifikum der Corona-Krise, nur wird es hier besonders deutlich. Eigentlich sind wir jeden Tag von Leid umgeben, stehen in der Spannung von Angst und Hoffnung oder versuchen, Enthusiasmus statt Enttäuschung aufzubringen.
Vielleicht ist es die Komplexität der modernen Welt und der menschlichen Existenz, mit der wir ein Leben lang zu kämpfen haben. Ich wünsche mir, dass Jesus mir und uns hilft, zur richtigen Zeit die richtige Perspektive zu wählen, die Gefühle zuzulassen, die gerade angebracht und hilfreich sind, und manchmal auch nur ihr Nebeneinander auszuhalten.