Vor lauter Verzückung über die seltenen winterlichen Verhältnisse vor Ort kommt nun schon die zweite Winteranalogie innerhalb einer Woche. Dieses Mal geht es nicht um den Schnee auf dem Weg, sondern um das Eis auf dem See. Ausgelöst durch den zunehmend gefrierenden Aasee vor der Haustür stellen sich viele Münsteraner die Frage, ob dieser betretbar ist.
Die Frage um die Dicke des Eises erinnerte mich an eine griffige Veranschaulichung aus einem Apologetikbuch, welches ich vor Jahren gelesen habe. Apologetische Bücher versuchen, in die Kunst der intellektuellen Verteidigung der Glaubensüberzeugung einzuführen. Viele Argumente und Details aus diesen Büchern, die ich früher viel gelesen habe, vergesse ich leider schnell. Aber diese eine winterliche Illustration ist mir hängengeblieben. Sie geht ungefähr so:
Wenn ich mich frage, ob ich einen gefrorenen See betreten kann, kommt es nicht so sehr darauf an, wie sehr ich an die Dicke des Eises glaube, sondern ob das Eis tatsächlich tragfähig ist. Bin ich sehr überzeugt von der Eisschicht obwohl diese tatsächlich nur sehr dünn ist, werde ich schnell einbrechen. Umgekehrt kann Angst und Zögerlichkeit dazu führen, dass ich am Ufer bleibe, obwohl die dicke Eisschicht nicht nur mich, sondern womöglich ein fettes Auto tragen würde. Ebenso verhält es sich mit religiösen oder auch anderen Überzeugungen: Nur weil ich besonders stark daran glaube, dass dieser oder jene Gott mich liebt oder ich durch diese oder jene Tat oder Ritual einen Gott besänftigen könnte, muss das noch lange nicht stimmen. Entscheidend ist nicht so sehr mein Glaube an ein Objekt, sondern das Objekt meines Glaubens. Noch einfacher: Es zählt, was wahr ist. Der Grad der Überzeugung ist irrelevant.
Diese Logik leuchtet mir damals wie heute ein. Wenn Leute „die Kraft des Glaubens“ lediglich als Instrument für ein wohligeres Gefühl oder als bloße Selbsttherapie betrachten, ist das letztlich inkonsequent. Wer psychologische Hilfe oder einen Sinn im Leben braucht, ohne an den Sinngeber zu glauben, der kann sich auf dem großen Markt der Selbsthilfebücher und Psychologieratgeber auch gleich ganz ohne Gott bedienen.
Die Frage nach der Tragfähigkeit der eigenen Überzeugung stellt sich auch bei nicht-religiösen Themen, wie die aktuellen Debatten um Filterblasen, Verschwörungsmythen und dergleichen aufzeigen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie überzeugt Mitmenschen und manchmal ich selbst von Dingen reden, von denen man in seiner menschlichen Begrenztheit gar kein umfassenderes Verständnis haben kann. Da begeben sich Menschen voller Überzeugung tatsächlich auf „ganz dünnes Eis“, ohne die Tragfähigkeit ihrer Meinungen wirklich zu kennen.
Die große Frage bei all dem ist natürlich, ob und wie man die Eisdicke seiner Überzeugungen herausfinden kann. „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus schon einst nachdenklich, ohne wirklich eine Antwort zu erhalten. Die Suche nach Wahrheit über Gott und Welt gestaltet sich auch deshalb so schwierig, weil man eben nicht sofort einbricht, wenn das Eis zu dünn ist. Es gibt hier auf Erden meist nicht diesen einen Moment, wo das Eis bricht und die Überzeugung sich als Lüge erweist. Wer „Recht“ hat, stellt sich wenn überhaupt nur ansatzweise heraus.
Selbst wir Christen müssen ehrlich zugeben, dass unser Glaube kein Wissen ist. Er ist bei aller gebotenen Apologetik nicht beweisbar. Wir setzen unsere Füße aufs Eis und werden erst nach dem Tod erfahren, ob der Gott der Bibel, auf den wir unser Leben bauen, sich als echt erwiesen hat. Wenn es anders wäre und Gott schon hier sichtbar wäre, würden vermutlich schon alle an ihn glauben.
Und doch spricht die Bibel von der „Gewissheit des Glaubens“. Paulus, Petrus, Johannes & Co. schienen von Jesus felsenfest überzeugt. Christlicher Glaube ist mehr als ein Setzen auf Wahrscheinlichkeiten oder eine vage abstrakte Hoffnung. Wie kommt man dahin?
Ich glaube, das Suchen nach und Festhalten an Wahrheit wird durch etwas erleichtert, was ich nur mit „Erfahrung“ umschreiben kann. Um zur Winteranalogie zurückzukommen: Ob das Aaseeeis tragfähig ist, hängt von einem Faktorenbündel ab: Die klirrende Kälte über eine Woche hinweg, die man in der Wetterapp ablesen und am eigenen Leib spüren kann; die Erfahrungswerte vom großen Aaseespaß im Februar 2012, wo die halbe Stadt auf dem Aasee flanierte; die Analyse von Fakten zum Gefrieren von Gewässern und schließlich die wagemutigen Menschen, die in den letzten Tagen (trotz Warnung des Ordnungsamts) tatsächlich den Schritt auf den See gewagt haben und nicht eingestürzt sind.
Analog kann der Glaube auch dadurch gestützt werden, wie man Gott im eigenen Leben spürt und erlebt, wie man ihn in der Vergangenheit im Gebet oder in der Wegführung schon erfahren hat, welche Indizien für die Glaubwürdigkeit der Bibel sprechen und wie andere Christen von ihm getragen werden. All das schafft immer noch kein Wissen über die Wahrhaftigkeit des Glaubens. Am Ende des Tages muss man immer noch einen Fuß nach vorne setzen und selber erfahren, ob der Glaube trägt. Selbst wenn wir von der Tragfähigkeit des Glaubens überzeugt sind, sollten wir Demut und Liebe gegenüber denen bewahren, die skeptisch oder zögerlich am Ufer stehen.
In Münster haben einige heute schon das Eis getestet, andere spazieren lieber sicher am Rand. Die Zeit des Ausprobierens ist begrenzt: Am Montag wird es wärmer, dann müssen wir womöglich ein weiteres Jahrzehnt auf Eis warten. Wie auch immer wir uns in kleinen und großen Wahrheitsfragen entscheiden: Ich wünsche uns viel Segen, Bewahrung und Weisheit beim Ringen um und Leben von Wahrheiten.
Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. – 2. Korinther 5,7
[Dieser Post ist keine Empfehlung, den Aasee zu betreten. Das Betreten von gefrorenen Gewässern kann lebensgefährlich sein. Alle Beispiele dienen nur der Veranschaulichung.]
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