Website-Icon Frühlingsleben

Wenn Kellerkinder weinen
Ein Nachruf an einen meiner größten Vorbilder

Wenn eine Person des öffentlichen Lebens stirbt, ruft dies selten eine tiefere Reaktion in mir hervor. Als Apple-Fanboy war ich über den Tod von Steve Jobs 2011 etwas traurig, da ich mir zuvor unzählige Interviews, Keynotes und dergleichen angeschaut hatte und das Gefühl hatte, Steve und seine Visionen und sein Denken etwas besser zu kennen. Doch in der Regel berührt mich der Tod berühmter Personen wenig, weil ich sie nicht persönlich kenne.

Als Tim Keller am Freitag starb, war dies anders.

Für alle, die Tim Keller nicht kennen: Tim Keller war ein besonderer Pastor, Autor und Denker, der wie kein anderer historisch-kulturelle Weitsicht, intellektuelle Versiertheit und pastorale Sensibilität mit den uralten Wahrheiten biblischer Texte verband und die gute Botschaft des Evangeliums auf frische, praktische, berührende und manchmal auch humorvolle Weise zum Leben brachte. Als jemand, der als Input- und Wissensjunkie Analysen des aktuellen Weltgeschehens liebt und gleichzeitig den persönlichen tiefen Austausch auf Herzensebene und das gemeinsame Suchen nach Gottes mysteriösem Handeln in dieser komplexen Welt schätzt, war ich quasi dafür geboren, von Kellers Herangehensweise zu profitieren. Ich habe seine Bücher und seine kürzlich erschienene Biographie verschlungen, seine Podcasts und Interviews beim Joggen & Putzen gehört und meine eigenen Predigten, Andachten und Texte immer wieder nach den Prinzipien ausgerichtet, die ich bei Keller ausmachen konnte: Jesus-zentriert, Motiv- statt Verhaltensorientierung, Berücksichtigung säkularer Einwände u.v.m.

Ich war sogar so tief im Keller-Universum drin, dass ich einmal einen Münsteraner Prediger dabei ertappt habe, wie er eine Keller-Predigt nahezu 1:1 kopiert und vorgetragen hatte. Als ich ihn darauf hinwies, musste er schmunzeln. Es fühlte sich fast so an, als ob zwei Theo-Nerds sich verstanden fühlen.

Tatsächlich war es oft so, dass ich mit Menschen, die Tim Keller konsumierten und schätzen, eine besondere Verbundenheit hatte. Denn es ist ja nicht selten so, dass man sich seine Prediger, Gurus oder sonstige Vorbilder danach aussucht, was man selbst als Ideal oder Wert hochhält. Viele meiner Freude, die auch „Kellerkinder“ waren und sind, haben eine gewisse Affinität zu intellektueller Redlichkeit, Weltoffenheit, Herzensaustausch und pragmatischer Nüchternheit gepaart mit einer eher konservativen und dennoch demütigen, differenzierten und sensiblen Theologie. Ich habe auch Freunde, die total auf Charismatiker wie Bill Johnson, auf Philosophen wie Jordan Peterson oder auf Coaches wie John Maxwell abfahren, aber da geht die Verbundenheit nicht immer ganz so weit. Beispielsweise kann ich als eher verkopfter Mensch mit der Emotionalität und superlativen Sprache einiger Charismatiker nicht immer ganz mitgehen.

Doch als ich Freitag auf die Nachricht von Kellers Tod starrte, wurde ich dennoch ziemlich emotional.

Das lag aber nicht nur an Kellers Tod selbst. Ich kam an dem Abend von einer Klassenfahrt mit fast 60 Achtklässlern, die mich teilweise ganz schön herausgefordert hatten. Dadurch war ich zum Einen müde, was die Emotionalität und Sentimentalität tendenziell erhöht. Zum anderen stand ich auch unter einem Eindruck von Erlebnissen, die wie ein Kontrast auf Kellers Wesen und Wirken wirkten.

Denn auf der Klassenfahrt beobachtete ich immer wieder Verhaltensweisen bei mir selbst und bei meinen Schülern, die im Widerspruch zu den Werten stehen, die in den Hommagen an Keller, die ich las (z.B. hier und hier, mehr hier), benannt wurden: Geduld, Respekt, Freundlichkeit und einiges mehr. Ich selbst war gelegentlich gereizt, wenn etwas auf der Fahrt nicht lief und war nicht so fürsorglich und sensibel, wie ich manchmal hätte sein können. Bei den uns anvertrauten Schülern mussten wir Lehrkräfte immer wieder Feuer löschen, wo Schüler sich gegenseitig beleidigten und ausschlossen und eine Sprache benutzten, die weit entfernt davon war, dass ich sie hier wiedergeben sollte.

Eine besondere Herausforderung war für mich, wenn sich einzelne Schüler in einem Kulturkampf gegen alles Moderne wähnen und unverhohlen ihre Abneigung gegen bestimmte Bewegungen oder Ideologien herausposaunten. Tim Keller hatte da eine ganz andere Herangehensweise: Er startete eine Gemeinde im hochsäkularen New York und hatte jeden Sonntag einen hohen Anteil an Skeptikern und Suchenden im Gottesdienst, denen er sich in einer Q&A-Session am Ende stellte. In seinen Predigten antizipierte er immer wieder die Einwände der Gegenseite und ging auf sie ein, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Er sprach und schrieb als Pastor an vielen „weltlichen“ Orten (z.B. Google, Oxford) oder Medien wie die New York Times (z.B. über Krebs oder Vergebung), New Yorker oder The Atlantic. Keller besaß ein Gespür für den Zeitgeist, ohne sich diesem anzupassen oder ihn voller Wut anzugreifen. Genau das ist etwas, was ich in einigen Kreisen öfters vermisse.

Wir werden diese Welt nicht mit Wut oder Verachtung erreichen, sondern nur, wenn wir es verstehen, sprachfähig über den Glauben zu werden und in einen echten Dialog mit Anders- und Nichtgläubigen zu treten. Aus meiner Sicht hat kaum jemand genau das über Jahrzehnte so vorgelebt wie Tim Keller. Auch ich als „Kellerkind“ tue gut daran, aus dem Input-Keller herauszusteigen in die Welt und sich fundiert und freundlich den Interaktionen zu stellen.

Die mobile Version verlassen