Ich hatte in der letzten Zeit zwei längere Gespräche, die mir nachgegangen sind. Das eine war mit einer mir fremden jungen Psychologin im Zug und das andere mit einem mir nahestehenden Menschen. In beiden Gesprächen kristallisierte sich eine gewisse Grundangst über die Zukunft heraus, die sich symbolträchtig in der Skepsis äußerte, wie man jetzt noch Kinder in die Welt setzen könne. Der Cocktail an Krisenstimmung, der sich vor allen Dingen aus der Klimakrise und dem Ukrainekrieg speiste, schien beiden die Zuversicht gegenüber der Zukunft zu nehmen.
Ich konnte ihr Unbehagen gut nachvollziehen, rational zumindest. Ihre Bedenken leuchteten ein: die klimatischen Veränderungen und Zukunftsmodelle sind bedrohlich und auch die geopolitische Weltlage verheißt nichts Gutes. Aber ein emotionales Nachempfinden fiel mir dennoch schwer.
Da ist etwas in mir, was mir Kinderkriegen nicht nur total natürlich erscheinen lässt, sondern mich auch zuversichtlich stimmt, dass es mit uns als Familie und uns als Menschheit schon weitergehen wird. Was ist dieses etwas? Schwer zu sagen, aber wenn ich es versuche zu explizieren, würde ich es auf drei Gs herunterbrechen: Geschichte, Glaube und Gewohnheit.
- Als Geschichtslehrer führe ich ständig junge weitestgehend wohlsituierte Menschen in die Krisen und dunklen Kapitel der Vergangenheit: sei es der verheerende 30jährige Krieg in der siebten Klasse, die unmenschlichen Zustände in der Industrialisierung oder die abscheulichen Greuel der NS-Zeit in der 9. Klasse oder die atomare Bedrohung in der Kubakrise in der Q2 – ich weiß nicht, ob ich in diesen Zeiten mehr Zuversicht als heute hätte haben können.
- Als gläubiger Christ glaube ich an jemanden, der die Welt trotz aller Katastrophen in den Händen hält. Der den Menschen zwar Freiheit gewährt, leider auch vieles kaputt zu machen, aber auch Grenzen setzen kann und Hoffnung und Zuversicht verspricht. Dieser Glaube ist der gleiche Glaube, der schon Christen, die vor mir unterwegs waren, motiviert hat, auch im größten Leiden nach oben und nach vorne zu schauen und sich in diese Welt zu investieren – sei es als Helfer in der Pest, als vorausschauende Naturwissenschaftler, als Diener in der Not oder einfach nur in der eigenen Familie.
- Schließlich scheint es mir eine universelle und natürliche „Gewohnheit“ zu sein, dass Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten trotz aller Bedrohungen Kinder bekommen und in die Zukunft hineingelebt haben. Zyniker mögen einwenden, dass läge nur an mangelnder Verhütung, mangelnder staatlicher Altersversorgung oder an unreflektierter Sozialisierung. Aber ich glaube, dass da noch etwas drüber hinaus ist, was Menschen antrieb und antreibt, quasi sich selbst weiterzugeben und die Verantwortung für den eigenen Nachwuchs zu tragen. Es ist eingebaut in die Ordnung dieser Welt und in die Natur des Menschen wie das Ein- und Ausatmen. Zwar wurde mit Begriffen wie „Natürlichkeit“ schon viel Schindluder getrieben und Unrecht legitimiert, aber diese traurigen Exzesse können gewisse offensichtliche anthropologische Konstanten nicht komplett negieren.
Abgesehen davon empfinde ich sowohl die Vorstellung als auch die Realität, dass da ein neues Wesen ist, was aus beiden Elternteilen besteht in Bezug auf körperliche Eigenschaften, Gesichtszüge, Charaktereigenschaften u.v.m., aber auch gleichzeitig ganz individuell ist, ganz wundersam und göttlich. Kleine Geschöpfe, die so unendlich wertvoll sind und die Leben, Glauben, Zweifel, Freude, Liebe, Erfahrung und Wissen in die nächste Generation tragen. Aus diesen Gründen finde ich es – nebenbei gesagt – auch schwierig, öffentlich zu promoten, wie klimaschädlich Kinder seien und dass jeder am besten so wenig Kinder wie möglich bekommen sollte. Da schwingt in Ansätzen das Konzept mit, dass Kinder und generell alle Menschen so etwas wie Parasiten sind, die wie in einer SWR-Doku als Krankheit für den Planeten gesehen werden („Die Erde hat Mensch“, 10/2021). Selbst wenn man mir präzise vorrechnet, wie viele Emissionen ein Kind verbrauchen wird, wehre ich mich aus ethischen Gründen dagegen, Menschen auf eine Zahl zu reduzieren oder primär als Belastung zu betrachten.
All diese Gedanken und Überzeugungen schwingen bei mir mit, wenn ich über sensible Themen wie Kinder und Zukunft spreche. Meine beiden Gesprächspartnerinnen jedoch haben über die Jahre andere Auffassungen und Ansichten entwickelt.
Momente, wo verschiedene selbstverständliche Wahrnehmungen aufeinanderprallen, empfinde ich immer als spannend. Luise wirft mir manchmal Skandallust vor, weil ich es irgendwie mag, wenn es knallt. Das kann ich nicht ganz von mir weisen, aber ich glaube darüberhinaus, dass gerade dann, wenn zwei Leute mit verschiedenen Sicht- und Denkweisen mal so richtig ehrlich die Meinung sagen, wirklicher und erhellender Austausch stattfinden kann – aber leider nicht muss, denn natürlich kann so ein Aufeinanderprallen auch im heillosen Streit enden. Aber selbst dann weiß man zumindest, wo man steht. Jedenfalls langweilen mich Uniformität und belanglose Höflichkeit, die damit einhergeht.
Der Austausch im Zug mit Sabina, der Psychologie-Auszubildenden aus dem Rheinland, war auf jeden Fall gewinnbringend. Sie erzählte mir, dass Sophie Scholl so etwas wie eine Heldin für sie sei und sie so viel von ihr gelesen habe und ihren Mut, aufzustehen und alles zu riskieren, so bewundere. Sie wünschte sich, sie hätte auch so einen Mut und als ich sie fragte, wofür sie den denn brauchte, musste sie erstmal überlegen. Irgendwie fürs Klima kämpfen, sich auf die Straße kleben oder sowas. Aber das traue sie sich nicht, weil sie um ihre Approbation, also ihre Berufserlaubnis als Psychologin, fürchten müsse. Ich konnte sie gut verstehen und hatte den Eindruck, da sprach jemand ganz ehrlich und von Herzen. Als sie kurze Zeit später über ihren Freund und das Kinderkriegen sprach, äußerte sie die die eingangs erwähnten Zweifel. „Wie kann man nur?“ Ich war für meine Verhältnisse ein bisschen mutig, denn ich erwiderte ihr, dass ich schon finde, man „könne“. Oft passe ich mich wie ein Chamäleon meinen Gesprächspartnern an, aus einer Mischung aus Verständnis und vielleicht auch Menschenfurcht. Aber hier hatte ich endlich mal Eier und erzählte ihr, dass ich das anders sehe. Zu meiner Überraschung fragte sie mich daraufhin: „Bitte, erzähl mir, warum. Warum sollte ich zuversichtlich in die Zukunft schauen?“ Solche direkten Fragen von Fremden habe ich nur sehr selten erlebt. „Ja, warum nur?“ Wie vermittelt man etwas, was einem selbstverständlich erscheint? Ich musste schnell reagieren und so kam ich natürlich nicht auf die (retrospektiv entwickelten) drei Gs von oben, sondern antwortete sinngemäß so:
„Weißt du, ich kann deine Sorgen gut nachvollziehen. Aber uns bleibt keine Wahl, als nur nach vorne zu leben. Wir müssen irgendwie weitermachen. Was mit der nächsten Generation und möglichen Kindern passiert, das weiß ich nicht. Aber Ungewissheit und schlechte Zeiten sollten uns nicht vom Handeln abhalten. Martin Luther soll einmal gesagt haben, dass er, wenn er wüsste, dass am nächsten Tag die Welt untergehen wird, er noch heute einen Apfelbaum pflanzen würde. Das drückt für mich die Zuversicht des Glaubens aus, die man braucht, um aktiv zu werden.“
Sabina kannte dieses Luther-Zitat noch nicht und erweiterte das Bild gleich: „Der Baum könnte ja für gute Sachen stehen, die man der nächsten Generation überlässt.“ Stimmt, so hatte ich das auch noch nicht gesehen.
Im Rückblick hätte ich noch mehr sagen und erklären können, aber ich hatte den Eindruck, das reicht erstmal. Zuversicht ist sowieso nichts, was man rational oder emotional vermitteln kann. Es ist ein Geschenk, was mir der Glaube gibt, aber es ist auch ein fragiles Geschenk, was man zwischenzeitlich auch verlieren kann. Wenn Gott uns Kinder schenkt – denn auch das ist für mich ein Geschenk – will ich es trotz aller globalen und persönlichen Zukunftssorgen annehmen und hoffe, dass sie auf Menschen treffen, die ihnen ein Stück von der Zuversicht weitergeben, die sie und du und ich so dringend brauchen.