Die einzige Person mit jüdischen Wurzeln, die ich mal persönlich kennengelernt habe, heißt Noemi. Wir gingen in den selben Latinumskurs und erhofften uns Feinschliff vor der großen Prüfung. Noemi war eine kosmopolitische, lustige und offene Studentin, aber nicht sonderlich religiös. Sie erzählte mir mal von jüdischen Chanukka-Fest und der schönen Lichtsymbolik – das war für sie eine Erinnerung an ihre Herkunft. Als ich viele Jahre später in der Serie „The Chosen“ viele Kerzenlichter und -feste wiederentdeckte, musste ich an Noemi denken. Ansonsten haben sich unsere Wege verlaufen, sie ging nach Berlin und Brüssel und ich nach Ostwestfalen. 

Warum habe ich abgesehen von Noemi nicht mehr Juden in meinem Leben getroffen? Ich würde gerne mehr kennenlernen, aber ich treffe nicht auf sie. In Deutschland und auch weltweit sind die Juden eine sehr kleine Gruppe. Sie machen gerade einmal 0,2% der Weltbevölkerung aus. Es gibt 26 Länder, in denen der Islam Staatsreligion ist, 11 offiziell christliche Länder und nur ein kleiner Landstrich am Mittelmeer in der Größe von Hessen, wo das Judentum zur Staatsreligion zählt (Link zu den Zahlen (deutsch), englisch). 

Angesichts dieser Zahlen erscheint mir Antisemitismus völlig irrational. Welche „Gefahren“ sollen von einer verhältnismäßig derart kleinen Religion und deren Anhänger ausgehen? Wo treten diese Juden als Terroristen oder Kulturimperialisten auf? Im Gegenteil: Warum werden die außerordentlichen wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen dieser winzigen Gruppe nicht anerkannt – 22% der Nobelpreisträger sind jüdisch (Einstein, Paul Ehrlich, Daniel Kahneman u.v.m.), obwohl sie wie gesagt nur 0,2% der Weltbevölkerung ausmachen?

Natürlich kann man einzelne Faktoren für Antisemitismus historisch und analytisch erklären: christlicher Antijudaismus in Antike und Mittelalter, die erzwungene Segregation und damit einhergehende Entfremdung, die Staatenlosigkeit über Jahrhunderte, das „Sündenbock“-Phänomen (z.B. bei der Pest), der jahrzehntelange Konflikt im Nahen Osten und die dortige Siedlungspolitik der Regierung. 

Aber all das kann nicht erklären, warum heute vor 85 Jahren friedliche jüdische Mitbürger in der sogenannten „Reichskristallnacht“ drangsaliert, ihre Läden zerschlagen, ihre Gotteshäuser verbrannt wurden, und dann kurze Zeit später in einem beispiellos industriell organisierten Massenmord in größter deutscher Ordnung und Genauigkeit europaweit vernichtet wurden und warum noch heute Millionen, wenn nicht Milliarden, Menschen Judenhass pflegen und sich daran erfreuen, wenn wie vor einem Monat jüdische Zivilisten, Kinder, Alte, Frauen und Männer, bestialisch und mit großer Genugtuung abgeschlachtet wurden. Der Jubel über die Massaker kam wohlgemerkt schon vor dem israelischen Gegenangriff. So postete eine Integrationsbeauftragte aus Minden am Morgen des 8. Oktobers: „Was für ein schöner Morgen“ (vgl. MT-Artikel).

Mich macht dieser blinde Hass, diese blutrünstigen Attacken, diese hirnrissigen Verschwörungen und diese global-vorhandenen Anfeindungen auf Schulhöfen, vor Synagogen und auf den Straßen einfach nur sprachlos. Als Geschichtslehrer stehe ich mit all meinen methodischen Werkzeugen und meinem historischen Wissen vor einer Situation, die ich in ihrer Tiefendimension nicht wirklich nachvollziehen kann. Schon Hitlers Verirrungen über die angeblich „jüdisch-bolschewistische“ oder je nach Gusto auch „Hochfinanz“-Verschwörung des „Weltjudentums“ in „Mein Kampf“ sind für mich schwer verständlich gewesen. Wenn meine Schüler mich fragen, warum Hitler die Juden so hasste, dann kann ich zwar ein paar Theorien und Faktoren nennen, aber ein Rest Ungewissheit bleibt, bis heute. 

Ich bin als nüchterner Mensch und eher konservativ-großgewordener Christ nicht schnell geneigt, mit „geistlichen“ Erklärungen um die Ecke zu kommen, aber bei dieser Irrationalität der Gewalt und der Menschenverachtung drängen sich solche Erklärungsversuche fast schon auf. Stoßen sich so viele an den Juden, weil sie von sich behaupten, ein „von Gott auserwähltes Volk“ zu sein? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich – wir sollten alle eine Kerze für die Juden anzünden, ganz unabhängig ob und wie wir glauben. Keine Kerze nur des Gedenkens im Sinne der Trauer, sondern auch eine Kerze des Lichts, welches wir in dieser abgrundtiefen Dunkelheit anzünden sollen. Vielleicht ein wenig so, wie Noemi es beim Chanukka-Fest gemacht hat.


Entdecke mehr von Frühlingsleben

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

Kommentare

Noch keine Kommentare. Fang gerne an :)

Ergänze den Beitrag gerne mit deiner Perspektive