Nach dem ersten Teil über die ersten vier Lektionen aus einem Jahr Minden folgt hier der zweite Teil. Der thematische Überbau dieses Teils ist das soziale Leben, während es im ersten Teil primär um Stadt & Kultur ging. Im anschließenden dritten Teil geht es um Entschlossenheit und Engagement.
5. Deutsche Kultur macht Kontaktaufbau nicht immer einfach
Eine der größten und wichtigsten Aufgaben nach einem Umzug ist es, sozial in der neuen Umgebung anzukommen. Was bringt einem die tollste Wohnung und die schönste Stadt, wenn man niemanden kennt, mit dem man diese und weitere Dinge teilen kann?
Auf diesem Gebiet bin ich durchaus dankbar, aber auch etwas sehnsüchtig. Dankbar vor allem für Kontakte und Freunde, die sich im Schul- und Gemeindekontext ergeben haben. Gerade seit diesem Sommer hat sich eine Gruppe von Junglehrern gebildet, die viel miteinander machen. Es tut gut, mit vertrauten Menschen Leben zu teilen, sei es im Hauskreis, im Lehrerzimmer, bei einem Thanksgiving-Dinner oder beim Spieleabend.
Gleichzeitig bin ich etwas frustriert, wie schwierig es ist, über feste Kontexte wie den Arbeitsplatz hinaus Kontakte zu knüpfen. Nehmen wir beispielsweise Nachbarschaft. Es scheint mir, dass sich in den letzten Jahrzehnten der Konsens in Deutschland herausgebildet hat, dass man Nachbarn höflich aus dem Weg geht. Ausnahmen bestätigen die Regeln und ich selbst habe auch schon ganz tolle Nachbarschaftsbeziehungen kennengelernt. Trotzdem ist meine subjektive Beobachtung, dass es in der Regel enorm viel Eigeninitiative braucht, um mehr als Flurgespräche herzustellen. Ich spürte das in dem Blick unser direkten Wohnungsnachbarin, als wir sie zu uns einluden. Sie war erst Mitte 20, aber es schien ihr völlig fremd, seine Nachbarn zu treffen. Sie wiegelte ab, dass sie aktuell keine Zeit habe, aber „später irgendwann mal“ – was bis heute nicht eingelöst wurde. In unserem Haus mit etwa 14 Parteien haben wir zum Nachbarschaftskaffee und -waffelessen eingeladen. Einige sehr freundliche Rentner kamen auch, aber viele sind ferngeblieben und proaktive Gegeneinladungen kommen kaum zu Stande.
Ein anderes Beispiel ist eine Laufgruppe, der ich beigetreten bin. Hier kann man ganz wunderbare Gespräche führen über Laufschuhe, den nächsten Marathon und den Meniskus. Manchmal geht es auch um Berufe, Familie und Alltagsstress, aber überhaupt mal ins Gespräch zu kommen ist kein „Selbstläufer“. Als Neuer steht man erstmal dumm rum und muss zaghafte Anfragen machen, obwohl die Läufer meisten durchaus freundlich sind und sich untereinander scheinbar gut verstehen. Über all dem schwebt eine Wolke der Höflichkeit und der Distanzwahrung.
Die deutsche Angst vor „Übergriffigkeit“ erschwert es Neuankömmlingen, Kontakte nicht nur zu knüpfen sondern auch zu vertiefen oder gar Freundschaften daraus werden zu lassen. Im Unikontext habe ich das weniger erlebt, da hier viele junge und Zeit-habende Zugezogene kontakthungrig aufeinander treffen. Im „Erwachsenenleben“ einer typischen Kleinstadt braucht es jedoch viel Ausdauer und Mut, die kulturellen Kontaktmauern zu durchbrechen. Typischerweise wird einem dann empfohlen, in einen Sportverein oder zur Feuerwehr zu gehen. Sozialleben muss in Deutschland nicht spontan-organisch, sondern im geordneten Rahmen stattfinden, 2x die Woche.
Problem ist nur: Die Zeit und Nerven dafür haben viele berufs- und familientätige Menschen gar nicht. Und selbst wenn die Zeit vorhanden ist – in einer langen Schlange, beim Laufen, im Urlaub, beim Straßenfest usw. – ist die Neugierde, auf neue Menschen zu treffen bei uns nicht allzu ausgeprägt. Dass das Smartphone den Smalltalk verdrängt, ist hier natürlich auch nicht allzu hilfreich.
Diese Kombination aus deutscher Kultur („Komm mir nicht zu nah“), praktischen Einschränkungen (wenig Zeit) und meinen Sozialbedürfnissen führt manchmal zu einem gewissen Frustrationsempfinden, was ich trotz grundsätzlicher Dankbarkeit für viele liebe Freunde habe. „You are not so German“, wurde mir im Laufe des Lebens von einigen Internationalen gesagt. Dieser Satz war vielleicht als Kompliment oder als Erstaunen über mein zuweilen atypisches Verhalten gemeint, doch er weist in sich schon auf das Spannungsgefühl hin, welches ich hier in Minden etwas stärker spüre als in meinen Studenten- und Auslandstagen: Wenn Kultur und Individuum nicht immer zusammenpassen, dann entsteht eine Sehnsucht nach Mehr, nach Ankommen und Gesehen-Werden. Mein Glaube an Jesus stillt diese Sehnsucht grundsätzlich schon, aber im praktischen Alltag ist sie trotzdem greifbar vorhanden.
6. Sei offen für die soziale Realität
Wenn man daran geht, ein neues Sozialleben in einer fremden Stadt aufzubauen, beginnt man nicht mit einem leeren Blatt, sondern bringt Erwartungen an Gemeinschaft und Erfahrungen mit Menschen mit. Ich habe in meinem Leben immer wieder kostbare Gemeinschaftsmomente erlebt – ich denke noch gerne an Fondueabende mit meinen Schulfreunden, an Ausflüge mit meiner Jugendgruppe, an das Internatsleben im Senegal und an Mensamomente in Münster zurück. Doch schöne Erfahrungen bergen die Versuchung, dass man sie krampfhaft reproduzieren möchte. Mir war zwar von vornherein klar, dass ich in Minden keine langen WG-Diskussionen mehr haben würde und doch kann ich nicht ganz abstreiten, dass ich unterbewusst gerne eine Gemeinschaft hergestellt hätte, die so ähnlich dynamisch, jung und vielfältig war wie ich sie in Münster kennengelernt habe.
Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer nennt solche Vorstellungen „Traumbilder“ von Gemeinschaft, welche tatsächlicher Gemeinschaft entgegenstehen. Hier nur ein kurzer Ausschnitt seiner Ausführungen:
Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, und ob er es persönlich noch so ehrlich, noch so ernsthaft und hingebend meinte. Gott haßt die Träumerei; denn sie macht stolz und anspruchsvoll. Wer sich das Bild einer Gemeinschaft erträumt, der fordert von Gott, von dem Andern und von sich selbst die Erfüllung. Er tritt als Fordernder in die Gemeinschaft der Christen, richtet ein eigenes Gesetz auf und richtet danach die Brüder und Gott selbst. Er steht hart und wie ein lebendiger Vorwurf für alle andern im Kreis der Brüder. Er tut, als habe er erst die christliche Gemeinschaft zu schaffen, als solle sein Traumbild die Menschen verbinden. Was nicht nach seinem Willen geht, nennt er Versagen. Wo sein Bild zunichte wird, sieht er die Gemeinschaft zerbrechen. […]
Wo die Frühnebel der Traumbilder fallen, dort bricht der helle Tag christlicher Gemeinschaft an. Es geht in der christlichen Gemeinschaft mit dem Danken, wie sonst im christlichen Leben. Nur wer für das Geringe dankt, empfängt auch das Große. – D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben (1939)
Die Kraft und Wirklichkeit dieser Ausführungen habe ich in meinem ersten Mindenjahr immer wieder erfahren, wenn auch in teils anderen Kontexten als den von Bonhoeffers Kommunität. Nehmen wir beispielsweise die Kirchengemeinde, die praktischerweise bei uns um die Ecke ist. Dort sieht man Sonntags überwiegend graues Haar, die Generation zwischen 20-30 ist kaum vertreten. Das war erstmal schwierig für mich: „Mit wem soll ich hier was anfangen?“ Während ich im Studium eher in einer Altersblase gewesen bin, konnte ich hier nach und nach den „Schatz“ der Älteren heben. Eines Sonntags z.B. trafen wir ein nettes Ehepaar in den 80ern, welche uns gleich zum Abendbrot einluden. Als wir ein paar Tage später zu Besuch waren, erzählten sie uns ihre total spannenden Lebensgeschichten. Theo ist fast 90 und hat sogar noch als Kind die Nazi- und Nachkriegszeit hautnah mitbekommen. Er erzählte von der Flucht und davon, wie seine Familie nach 45 einem fremden Bauern in Minden zugewiesen wurde, weil überhaupt kein Wohnraum vorhanden war. Ich war so gebannt, dass ich ihn gleich in meinen Geschichtsunterricht als Zeitzeugen einlud.
Auch die bereits erwähnten Rentner in unserem Haus haben viel zu erzählen und haben uns schon einiges über die Mindener Geschichte, Gastronomie und Lokalpolitik mitgegeben. Ähnlich gute Erfahrungen mit Senioren haben wir gemacht, als wir die „Mindener Stichlinge“, eine kultige Kabarrett-Gruppe, die seit 1966 jährlich auftritt (!), besuchten. Der Altersschnitt in der Stadtsparkasse, in der sie auftraten, war zwar mind. 50+, aber die Damen und Herren an unserem Tisch waren außerordentlich nett und luden uns später noch in die Kultkneipe „Zum seriösen Fußgänger“ (sie heißt wirklich so) ein. Das hatten wir nicht geplant und erwartet, was umso schöner war!
Eine andere Form der Begegnung, die sich in den letzten Monaten vermehrt ergeben hat und die ich nicht geplant hatte, ist der Kontakt zu Ex-Abiturienten. Erst vor kurzem meldeten sich einige Ex-Englisch-LKler, ob wir nicht zusammen mal was machen wollten. Die Austauschrunde beim Dinner und der anschließende Kirmesbesuch waren wirklich nett, locker und lustig. Als ich abends ins Bett fiel, dachte ich mehr als sonst: “Hier bin ich richtig”.
Erfahrungen wie diese zeigen mir, dass ich Gemeinschaft nicht nur nach meinen Präferenzen „schaffen“ sollte, wie Bonhoeffer schreibt, sondern offen sein möchte für Menschen, die ich vielleicht selbst gar nicht auf dem Schirm habe. Ebenso möchte ich schon das dankbar annehmen, was ich an Begegnung bereits habe und nicht nur auf was neues Großes warten oder nur fordernd an Menschen heranzutreten: „Stell mehr Fragen, sei initiativer, erzähl spannender“ – wer nur fordert, wird schnell enttäuscht und zynisch. Neben dem Loslassen von Traumbildern braucht es natürlich schon Initiative und manchmal auch „Biss“ und Dranbleiben, um Freundschaften zu knüpfen und zu vertiefen. Diesen Tanz zwischen Proaktivität und Ergebnisoffenheit muss ich nahezu wöchentlich neu einüben. Das macht durchaus auch Spaß, denn „im Rhythmus zu sein“ schafft eine Verbundenheit, die ich selbst nicht erahnen und schaffen könnte.
7. Nutze neue geographische Vorteile
Minden ist der letzte „Vorposten NRWs“ und quasi eine Grenzstadt vor meinem Heimatbundesland Niedersachsen. Hannover ist je nach Zug zwischen 30-45min zu erreichen, nach Bielefeld dauert es 30 und nach Osnabrück 50 Minuten. Noch näher dran ist die prächtige Porta Westfalica, die Kurstadt Bad Oeynhausen mit großer Parkanlage, das Schloss im hübschen kleinen Bückeburg oder das Torfmoor in Hille. Eine Neuigkeit für mich Nordlicht in Minden ist das Wiehengebirge, welches zum Wandern, Radfahren oder einfach nur zum Draufblicken von der Stadt aus einlädt.
Wie jede andere Stadt auch ist Minden in eine Region und in Netzwerk von Städten und Landschaften eingebunden. Manche Orte sind nach dem Umzug ferner gerückt – meine ostfriesische Heimat z.B. – manches aber auch näher. Dadurch haben wir beispielsweise mehr Kontakt zu meinem Trauzeugen und seiner Familie in Hannover, zu alten Münster-Freunden in Bad Oeynhausen oder auch zu meiner Schwester und ihrer Familie in Berlin, welches dank einer etwa 2 ½-stündigen Zugfahrt näher an uns „rangerückt“ ist. Luises Schwester und Freundin in Braunschweig und Göttingen sind nun auch besser zu erreichen, wovon sie schon rege Gebrauch gemacht hat. Ich habe gelernt, den neuen Standort bewusst als Chance zu sehen und die Möglichkeiten zu nutzen, solange wir hier sind.
Ein Zuhause zu finden heißt nicht nur, es sich in der Stadt gemütlich zu machen, sondern auch immer wieder mal von seiner neuen „Base“ auszuschwärmen, die Umgebungsluft einzuatmen und mit neuen Eindrücken zurückzukommen.
8. Gott versorgt
Ein Thema, was die obigen Lektionen bereits durchzogen hat, ist unsere Erfahrung, dass sich vieles in diesem ersten Jahr zum richtigen Zeitpunkt gefügt hat. Ich führe das auf Gott und seine Versorgung in dieser Umbruchszeit zurück. Jesus sagte in der Bergpredigt einmal: „aber euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles benötigt.“ (Mt 6,32) Es tut gut zu wissen, dass ich mit meinen Bedürfnissen, seien sie sozial, leiblich oder seelisch, gesehen werde. Mein Vater weiß, dass ich Freunde brauche, wahrscheinlich sogar mehr als der Durchschnittsdeutsche. Dass er es weiß, heißt nicht immer, dass er es sofort oder in „meiner Weise“ erfüllt, aber dass er sich kümmert und ich Ihm vertrauen kann.
Er wusste auch, dass wir eine Wohnung brauchten. Wir hatten nur eine Besichtigung und wohnen nun ganz in der Nähe der Innenstadt, der Gemeinde und der Schule. Jeder Tag in dieser schönen Wohnung ist ein kleines Geschenk und eine Erinnerung, wie dankbar wir sein können.
Als ich dachte, dass das Sozialleben gerade etwas „erschöpft“ sei und zwei enge Kollegen weggezogen sind, kamen just drei neue Menschen in unsere Schule, mit denen wir uns super verstehen.
Als ich merkte, dass ich mehr regelmäßige Gemeinschaftstreffen brauche, tat sich just ein neuer Hauskreis auf, zu dem wir seit ein paar Monaten sehr gerne gehen.
Als ich nach fast 5 Jahren meine Schule schon ganz gut kennengelernt habe und mir gerne „frischen“ Input von anderen Schulen und Fächern und mehr Begegnung mit anderen Lehrkräften gewünscht habe, ergab sich die Gelegenheit eines Zertifikatskurses für das Fach Wirtschaft-Politik, welchen ich seit Anfang des Schuljahres mit großer Freude einmal pro Woche in Hamm absolviere.
Das so aufzuzählen, kann schnell missverstanden werden. Ich erlebe Gott nicht als Wunschautomaten, wünsche mir oft mehr Tempo und habe einige unerfüllte Wünsche. Der Blick in das Leid der Welt lässt mich zögern, überhaupt öffentlich von Gottes Versorgung zu sprechen. Aber ohne subjektive Erfahrungen könnte ich den Blog gleich dicht machen, denn letztlich kann ich nicht mehr als über das berichten, was ich erfahren habe.
Mit diesem Berichten soll jetzt erstmal Schluss sein, denn der Text und der Tag neigt sich dem Ende. Die letzten vier der zwölf Lektionen folgen in einem weiteren Post in den nächsten Wochen.