Vor kurzem hörte ich von einem Mann aus unserer Region, der schon 900 Marathons gelaufen ist. Ja, 900! Eine Praktikantin, die bei mir unterrichtete, erzählte mir, dass ihr eigener Englisch-LK-Lehrer ein Lauf- und Lateinfan war, bei Jörg Pilawa im Quiz mitgespielt hat und stets sehr begeistert und anregend Englisch unterrichtete. Als sie mir seinen adligen Namen sagte, habe ich ihn gleich mal gegoogelt und einen Artikel und eine Webseite mit Laufliste über seine Marathons entdeckt. Ich war echt baff, wie jemand so viel und oft laufen kann. Ich kann mir mit meiner aktuellen Laufleistung höchstens einen Halbmarathon vorstellen und würde mich auf diesen wahrscheinlich 10 Jahre stolz wie Oskar ausruhen. 

Man muss schon ein besonderes Maß an Einsatz mitbringen, um solche Leistungen in seinem Hobby zu vollbringen. Ich selber laufe zwar gerne, aber eher gemütlich und ohne große Ambitionen. Ich messe meine Zeit nicht, laufe eher nach Lust und Laune – im Winter ist diese nicht sehr groß – und Spezialklamotten trage ich auch nicht. Meine mittelmäßige Laufleistung und -begeisterung spiegelt mein generelles Generalistendasein ganz gut wieder. Generalisten sind Menschen, die sich „generell“ für Vieles interessieren und manches davon auch etwas können, sich aber selten spezialisieren und ein Meister ihres Faches werden. Bei mir sieht das z.B. praktisch so aus: 

  • Ich programmiere ein wenig, richtig können tue ich es aber nicht. 
  • Ich interessiere mich für Politik, gehöre aber keiner Partei an und lese auch keine dicken Bücher dazu. 
  • Ich spiele gerne Fußball, aber schon lange nicht mehr im Verein. Als Teenager habe ich oft Fußball geschaut, jetzt schaue ich höchstens Turnierspiele.
  • Ich schaue gerne mal einen guten Film, ein Cineast mit Heimkino bin ich aber nicht. 
  • Ich habe ein Rennrad, kann dir aber noch nicht mal sagen, aus welchen Komponenten dies genau besteht. 
  • Ich interessiere mich für Kulturen und war schon mal im Ausland, eine Weltreise habe ich trotzdem noch nicht gemacht. 
  • Als Christ finde ich Theologie spannend, aber dicke Bücher und eine lange theologisches Ausbildung reizen mich nicht. 
  • Sprachen finde ich toll, aber für mehr als Englisch fehlt mir die Disziplin.
  • Ich kann ein wenig Klavier spielen, aber für die Musikbegleitung in der Gemeinde reicht es nicht.

Ich schreibe ganz gerne, aber Journalismus als Beruf war mir zu anstrengend. So habe ich den ultimativen Generalistenberuf gewählt – Lehrer. Ein wenig Fachlichkeit, aber nicht so tief wie an der Uni. Ein bisschen Er- und Beziehung, aber nicht so intensiv wie Sozialarbeiter oder Erzieher. Aktuell unterrichte ich vier Fächer (Englisch, Geschichte, Politik und Informatik) durchaus gerne, aber ich kann nicht sagen, dass ich für eines dieser Fächer „geboren“ wäre.

Es geht auch anders. In meiner „Umzugs- und Einleb-Reihe“ habe ich schon von einer Mindener Laufgruppe erzählt, bei der ich gelegentlich mitmache. Letztens war ich bei dem dazugehörigen Laufgeschäft, um mir zum ersten Mal in meinem Leben so richtig professionelle Laufschuhe zu kaufen. Ich wusste gar nicht, was es da alles zu beachten gibt. Erst wurde eine Video-Laufanalyse gemacht, meine Füße wurden vermessen und alle möglichen Marken, Federungen und Schuhtypen wurden mir vorgestellt. Mir wurde ganz schwindelig von den Optionen und Preisen. Als Trostpflaster für die teuren Schuhe mitsamt „personalisierter Einlage“ wurde mir das Magazin „Läuft“ geschenkt. Dieses blätterte ich zu Hause ein wenig durch und tauchte in eine ganz neue Hobbywelt ein: über 30 Seiten Schuhtests, ein Streitgespräch mit zwei Laufexperten über die optimale Ernährung, ein Register mit zahlreichen Laufevents, ein Artikel über die Aussagekraft der Herzfrequenz und vieles mehr. 

Doch all das ist nicht nur tote Theorie: viele Menschen in der Laufgruppe beschäftigten sich tatsächlich mit all diesen Fragen und die Gespräche drehen sich beim Laufen häufig um Equipment, das nächste Event, körperliche Beschwerden, optimale Ruhephasen usw. 

Anscheinend gibt es für jedes Hobby einen Markt, dieses Hobby so richtig auszuleben. Man könnte dieses vertiefte Ausüben eines Hobbys auch „Hobbyismus“ nennen. Hobbyisten sind für mich Menschen, die eine Sache mit großer Leidenschaft machen, die fast schon besessen sind von ihrem „Ding“. Egal ob Laufen, Rennradfahren oder Klavierspielen – das Hobby soll möglichst perfekt beherrscht werden. 

Hobbyismus birgt – wie so vieles – Chance und Gefahr. Es ist schön und besonders kostbar, wenn jemand eine Sache richtig gut kann und in ihr aufgeht. Wenn ein Marathonläufer beispielsweise scheinbar mühelos Beine und Füße über große Distanzen in Bewegung hält, ist dies ein schönes Zeugnis von der der Kraft und den Möglichkeiten des menschlichen Körpers und dem unbändigen Willen eines Einzelnen. Der Fokus, der uns in dem Zeitalter der Zerstreuung oft abhanden kommt, ist eines der größten Geschenke einer solchen Leidenschaft.

Gleichzeitig gibt es für mich persönlich einen Kipppunkt, wo die intensive Ausübung eines Hobbys zu starke Nebenwirkungen auslöst. Zum einen werden Familie und Freunde vernachlässigt, wenn das Hobby zu viel Zeit frisst. Bei einem selbst kann sich zudem ein gewisser Optimierungszwang und eine Verbissenheit einstellen. Wird das Hobby zum zentralen Identitätsmarker, dann stellt sich die Frage, wer man ist, wenn es aus gesundheitlichen, zeitlichen oder anderen Gründen wegfällt? 

Hobbyismus gibt es überall auf der Welt, aber es scheint mir, als ob unsere deutsche Kultur besonders dafür anfällig ist, ein Hobby nicht nur ausüben, sondern beherrschen, dokumentieren, perfektionieren, ja fast schon „verzehren“, also bis in alle Facetten erfassen zu wollen. Ein besonders kurioses Beispiel dafür ist der „Anzeigenhauptmeister“, der seit ein paar Tagen viral gegangen ist. In der SpiegelTV-Doku wird direkt am Anfang von einem „bizarren Hobby“ gesprochen, welches der 18-Jährige ausübt: Er dokumentiert und zeigt Parksünder an:

Nun taugt der „Anzeigenhauptmeister“ nur bedingt als Beispiel für Hobbyismus, dafür ist seine „Leidenschaft“ und wahrscheinlich auch er selbst zu speziell. Aber der dahinterliegende „Geist des Verzehrens“ und der Optimierung, unabhängig vom Zielobjekt (also dem konkreten Hobby), ist ein ähnlicher. Gerade deutsche Hobbyisten lieben es, ihre Leistungen zu tracken und messen ihre Zufriedenheit an ihrem persönlichen Fortschritt, in etwa so wie der Anzeigenhauptmeister penibel seine Anzeigen in einer Jahresstatistik auf Facebook dokumentiert:

Er fühlt sich nicht nur stolz und betrachtet sein Handeln als guten Zweck, er hat auch große Ziele: Am Ende eines anderen Videoberichts heißt es, dass es sein Wunsch sei, in allen Städten und Gemeinden Deutschlands eine Parksünde anzuzeigen. Ein seltsames Ziel, aber auch eines, welches die Art von Zielen verdeutlicht, die im Hobbyismus angestrebt werden. Es soll etwas möglichst allumfassend gemacht, erlebt oder gekonnt werden.

Das Erreichen solcher Ziele kann zwar Stolz und Glück auslösen, aber auch in die Isolation führen. Der junge Niklas, der sich als „Anzeigenhauptmeister“ präsentiert, wird gerade im Internet mit Hass und Häme überzogen. Bei genauer Betrachtung braucht er aber Gnade, Beziehung und Annahme und eine bessere Möglichkeit, seine Interessen, Gaben und seinen Sinn für Ordnung und Gerechtigkeit auszuleben. 

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Wo der Kipppunkt zwischen einfachem Hobby und hobbyistischer Obsession liegt, ist bei jedem anders. Generalisten wie ich könnten eine Schippe mehr Fokus und Biss in einer Sache gut gebrauchen. Während ich also etwas mehr Ambition gebrauchen könnte, brauchen andere vielleicht etwas mehr Ausgleich.

Unsere Charaktere sind so vielfältig wie das Spektrum an Farben. Mich ermutigt dabei der Gedanke, dass es da jemanden gibt, der uns erstmal so annimmt, wie wir geschaffen und verdrahtet sind. Egal ob wir vielseits interessierte und leicht zerstreute Generalisten oder begabte und teils zwanghafte Spezialisten sind. Jeder hat seinen Wert, seinen Platz und jeder kann einen wichtigen Beitrag leisten. Dieser jemand ist Jesus und dessen Jüngerteam besteht aus unterschiedlichen Charaktertypen. Besonders deutlich gemacht hat mir dies die Serie „The Chosen“, welche den Jünger Matthäus als zwanghaften und sozial-inkompatiblen Autisten darstellt, der große Fähigkeiten und Freude dabei hat, als Zöllner Steuern penibel einzutreiben und Buch darüber zu führen. Und in genau diesem Menschen wird etwas bewegt, als er von Jesus angeschaut und berufen wird. Die folgende Szene zeigt die Berufung eindrücklich:

Diese Interpretation ist natürlich frei erfunden, aber sie ist wunderschön, weil sie einen Kernaspekt des Evangeliums – der guten Nachricht – berührt. Egal in welcher Bude du gerade hockst und worin du dich vertieft. Egal, ob du dich in deiner Arbeit, deinem Hobby oder in tausend Interessen verloren hast: Da ist jemand, der dich ansieht, der dich ruft und dich da rausholt. Es gibt Hoffnung für Hobbyisten, Generalisten und allen dazwischen.


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