Ich hatte mal einen Schüler, nennen wir ihn Jan, der war lebensfroh, lustig und ganz vernarrt in den Eurovision Song Contest (ESC). Ich weiß nicht genau warum, aber Jan mochte diese Mischung aus Musik, Show, europäische Folklore und Wettbewerb. Eines Schultags hielt ich eine Morgenandacht zum Thema Frieden und spielte ihm zur Ehre die erste deutsche ESC-Gewinnerin Nicole und ihren kitschigen Song „Ein bisschen Frieden“ ab.
Ich selber konnte mich für diesen Wettbewerb nie so ganz begeistern. Angesichts der schlechten deutschen Platzierungen der letzten Jahre – allein die letzten 8 Jahre waren wir 7x letzter oder vorletzter – muss man schon etwas masochistisch veranlagt oder einfach nur ein „ergebnisunabhängiger Genießer“ von Musik (oder eher Show) sein, um sich das anzuschauen.
Aber dieses Mal wurde der ESC interessant für mich. Das hat einen einfachen Grund: der deutsche Kandidat Isaak kommt aus dem Mindener Umland, hat in Minden schon viel Straßenmusik gemacht, war Schüler an der Schule, wo ich jetzt arbeite und ist auch der Cousin einer Kollegin. Meine dienstälteren Lehrerkollegen konnten mir einige Geschichten aus seiner Schulzeit erzählen, unter anderem wie früh er schon musikbegeistert war. Seine ersten Erfahrungen auf einer Bühne hat er in einer christlichen Gemeinde gemacht (vgl. Interview), in der einige meiner Schüler gehen.
Jetzt geht es von Minden nach Malmö, wo er heute Abend den Song „Always on the run“ vorträgt:
Das Lied selbst hat emotionale Kraft und beschreibt mit großer Leidenschaft das Ringen, Weglaufen und Streben eines Suchenden. Hier einige Textpassagen:
I’m always on the run, run, run, run
Close, but never done, done, done, done
I can’t break out when I’m free
Lost in my own identity
I’m on the run, run, run, run […]Run from the silence, screamin‘ for guidance
Who am I fighting for?
Get out of my head, I’m so sick and tired
Can’t do this anymore
Ich mag die Ehrlichkeit dieses Hilfeschreis. Da ist jemand, der sich gefangen fühlt, der sich fragt, wofür er kämpft und was seine Identität ist, der nie ganz fertig ist, der die Stille nicht aushält und der sich einfach nur noch müde und fertig fühlt.
Worum es genau geht, warum sich „das lyrische Ich“ (Achtung Schule! 😉) gefangen fühlt, bleibt offen. Einige Analysten vermuten, es geht um mentale Gesundheit. Das ist gut möglich und auch ein immer wichtiger werdendes Thema.
Ich persönlich sehe in dem Song aber auch noch das Abbild einer gewissen Orientierungs- und Rastlosigkeit, die in einer schnelllebigen, säkularen und satten Gesellschaft eine nahezu unvermeidliche Begleiterscheinung ist. Die letzten Jahrhunderte der Ideengeschichte und die letzten Jahrzehnte der Gesellschaftsentwicklung haben stets das Prozesshafte betont, den Fortschritt, das Vorankommen. Weg vom Alten, auf zu neuen Ufern. „Der Weg ist das Ziel“ ist nicht nur ein banales Lebensmotto, sondern auch ein ideologisches und praktisches Ideal geworden. Einen der häufigsten Ratschläge, den ich in der Poppsychologie und auch in der Pädagogik höre, ist, dass man nie fertig sei, dass man die „journey embracen“ (Reise umarmen) solle, dass es nicht um das Produkt, sondern um den Prozess gehe. Natürlich kannst du dich mit 50 noch neu erfinden und deinen Beruf, deinen Partner oder deinen Wohnort wechseln. Karrieren der Stetigkeit sind tendenziell langweilig, Biografien des Aufbruchs werden hingegen zelebriert.
Dieser Fokus auf Entwicklung hat ja auch seinen Reiz: Wer immer „on the run“ ist, wie es im Liedtitel heißt, der hat eine vielleicht noch bessere Zukunft vor sich, der hat Potential, was noch genutzt werden kann. Sind wir „close, but never done“, also fast da, aber noch nicht ganz fertig, dann können wir uns ja auch noch verbessern. Ich selber begreife mich auch als einen Reisenden, der noch viel lernen, sehen, wachsen kann.
Aber ich glaube, dass sich jeder Mensch früher oder später auch nach einem Ankommen sehnt. Der Weg ist eigentlich nie wirklich das Ziel. Sogar auf einem Roadtrip strebt man Tagesziele an, will irgendwo schlafen und sich ausruhen. Selbst spontane, intuitive und „Ich lass mich treiben“-Menschen haben unbewusste Ziele – sei es den Kick der Aufregung, das fühlbare Abenteuer oder das Gefühl der Ganzheitlichkeit. In meinem Lebensalter Anfang-Mitte 30 beginnt ein Großteil meines Freundskreises, irgendwo anzukommen – in der Ehe, an einem Ort, in einem Beruf, in einem Haus, in einer Gemeinde. Es ist schwierig, in dauerhafter Veränderung zu leben. Aber ich glaube, dass diese genannten Beispiele nicht zwangsläufig genügen, um wirklich anzukommen. Wer Identitätsprobleme hat („Lost in my own identity“, vgl. Lied), dem wird ein schönes Haus, ein stetiger Beruf und auch ein sonntäglicher Gewohnheitsbesuch in der Kirche nicht unbedingt helfen.
Ich selber habe ganz konkret die letzten Tage gemerkt, dass ich mich getrieben gefühlt habe. Mein Problem: die Sonne. Die hat die letzten Tage so schön geschienen, dazu noch an Feiertagen wie Himmelfahrt, dass ich diese unbedingt nutzen wollte. Luise ist gerade in Kopenhagen mit einer Freundin und ich habe hier die freie Wahl, abgesehen von einigen Schulaufgaben, meine Freizeit zu gestalten. Ich habe merklich innerlich gespürt, dass sich ein gewisser Druck aufgebaut hat: „Du musst jetzt was machen, es ist nicht immer so schön, geh raus, ruf Leute an, bald hast du weniger Zeit.“ Ich bin ein Kind meiner Zeit und will möglichst viel mitnehmen. Ich selbst renne gar nicht so selten von der Stille weg und betäube sie mit Aktivität, Podcasts oder Musik.
Auch mein Glaube, der mir Heimat und Hafen ist, hält mich nicht davon ab, „on the run“ zu sein. Ich glaube der christliche Glaube enthält beides, sowohl das Ankommen als auch das Ausstrecken. Wir dürfen bei Gott still werden und auch die Stille aushalten (vgl. „run from the silence“ aus dem Lied), Rat empfangen („screaming for guidance“) und innerliche Freiheit erfahren („I can’t break out when I’m free“) von Sünde, Scham und Statusstreben. Und doch sind wir gleichzeitig aufgefordert, uns formen & schleifen zu lassen, uns auszustrecken und unterwegs zu sein – zu Menschen, die wie der Protagonist im Lied müde vom Laufen und Streben sind, die in der Übersättigung der Konsumgesellschaft keinen innerlichen Frieden finden und die trotz des Überangebots auf dem Markplatz der Welt- und Lebensanschauungen nicht wissen, für wen oder was sie leben.
Ich danke Isaak für dieses ehrliche und emotionale Lied und dem Einsatz seiner unglaublich starken Stimme. Ich weiß nicht, wie viel Autobiographie in dem Lied steckt. Ich habe gehört, dass er in Glaube und Gemeinde Enttäuschungen erfahren hat, was ich mir sogar aus der Ferne etwas vorstellen kann – Kirchengemeinschaften tun sich leider manchmal schwer damit, freiheitsliebende Künstlertypen zu integrieren. Ich wünsche ihm ein Ankommen bei einem Jesus, der selbst so viel unterwegs war, um uns mit offenen Armen zu empfangen und uns Rast und Ruhe zu schenken (Mt 11:28).
Von dem, was ich über Isaak gehört und in Interviews gesehen habe, scheinen Isaak und ich ziemlich unterschiedliche Typen zu sein. Er ein freischaffender Künstler, ich ein verbeamteter Lehrer; er Freigeist, ich tendenziell konservativ-stetig veranlagt; er ist maximal musikalisch talentiert, ich bin gesanglich und instrumental vollkommen unbeholfen. Ich glaube trotzdem, dass wir uns bei einem Kaffee ganz gut verstehen würden und dass – trotz Persönlichkeits- und Glaubensunterschieden – vielleicht auch in dieser Symbiose zwischen Aufbruch und Ankommen – sowohl in einem selbst als auch zwischen Menschen – ein Schlüssel liegt für ein schönes, nein, sagen wir sogar aufregenden Leben.
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