Vor einigen Wochen fragte mich eine Freundin, was ich von „toxic boy mums“ halte. Was ist das denn nun schon wieder, fragte ich sie und mich selbst. „Ja halt Mütter, die ihre kleinen Jungs übertrieben lieben und glauben, dass man erst als Jungenmutter seine wahre Bestimmung gefunden hat.“ Was für ein Blödsinn. Aber das Video, was sie mir dazu geschickt habe, habe ich mir trotzdem gleich angeschaut. Der Thumbnail, der Titel und das Thema versprachen einfach große Aufreg- und Absurditätsfreude:

Wie schön und lieblich ist es, sich besser zu fühlen als irgendwelche exzentrischen neurotischen Ami-Mütter, die ihren Jungs kitschige Liebeserklärungen auf Insta widmen.

Am Ende dieses „Aufdeckungsvideos“ war ich zwar nun aufgeklärt, aber auch nicht wirklich weiter und weiser. Dass ich unser baldiges Kind weder geschlechtsbedingt oder anderweitig bevorzugen sollte, war mir eigentlich schon vorher klar. Es war meine pure Neugierde und eine gewisse Skandallust, die mir eine halbe Stunde meines Lebens geraubt haben. Das Video, auch wenn es von einer coolen deutschen YouTuberin am Puls der Zeit gemacht wurde, ist eigentlich nichts anderes als voyeuristisches RTL2- und Trash-TV Fernsehen à la „Mitten im Leben“ oder „Bauer sucht Frau“ – mit dem Unterschied, dass die betroffenen Personen sich auf social media selbst zur Schau gestellt haben. „Danke Herr, dass ich nicht so bin wie die andern Leute“ (Lk 18,11) ist dann oft die emotionale und moralische Reaktion auf viele Videos dieser Art.

Nun sage ich nicht, dass es dieses Phänomen nicht gibt. Die teils herzzerbrechenden Kommentare unter dem Video zeigen, dass tatsächlich Jungs von einigen Müttern bevorzugt wurden und werden. Aber die Frage, die ich mir zunehmend stelle – ist dies mein Problem? Muss ich es mir zu eigen machen? Muss ich meine emotionale Energie auf Inhalte, Kontexte und Menschen fokussieren, die mir letztlich fremd bleiben? Vielleicht ist die Beschäftigung hilfreich, wenn man verständnissuchend an fremde Themen rangeht. Aber die schon angesprochene Neugierde und „Verstörungslust“ (vgl. Titel des Videos) sind keine guten Motive.

Gerade das Internet kann die menschliche Neugierde sowohl auf gesunde, als aber auch auf ungesunde Weise befriedigen. Die gesunde Variante sehe ich z.B. darin, wenn das Internet wie das „allwissende Buch“ von Tick, Trick und Track aus den Lustigen Taschenbüchern Antworten auf ganz viele praktische und „was ich immer schon mal wissen wollte“-Fragen bietet. Ungesund wird es, wenn es die voyeuristische Lust bis ins unendliche befriedigt sollte. Besonders die social media-Plattformen bietet uns Einblicke und Diskurse in Lebenswelten, die uns vor 50 Jahren kaum zugänglich waren. Ein Autor machte eine interessante Beobachtung: Die ominösen „Bubbles“ – Treffpunkte von politisch, religiös, kulturell-Gleichgesinnten – gab es schon lange vor dem Internet, nur das Internet hat mir nun auch fremde Bubbles einfach zugänglich für Außenstehende gemacht:

People could live within their own bubbles, with much less exposure to people and ideas outside of them. The Internet, however, started to pierce a lot of these bubbles, enabling people to look beyond their social worlds and to be formed in ideas and values and engage with people from outside of them. This weakened the power of those worlds to maintain internal norms and consensuses; it also made it easier for dissidents to arrange movements within and against them. It started to make formerly [hidden] bubbles easier for outsiders to look into. Among other things, these [changes] increased the felt need for apologetics, for both outsiders and insiders. It also intensified the perceived threat that different bubbles could pose to each other. – Alaistar Roberts (Quelle)

🇩🇪 deutsche Übersetzung des Zitats

Die Menschen konnten in ihren eigenen Blasen leben und hatten viel weniger Kontakt zu Menschen und Ideen außerhalb dieser Blasen. Das Internet begann jedoch, viele dieser Blasen zu durchdringen, und ermöglichte es den Menschen, über ihre sozialen Welten hinauszublicken, sich in Ideen und Werten zu bilden und sich mit Menschen außerhalb ihrer eigenen Welten zu beschäftigen. Dies schwächte die Macht dieser Welten, interne Normen und Konsense aufrechtzuerhalten, und erleichterte es Andersdenkenden, Bewegungen innerhalb und gegen sie zu organisieren. Es begann, ehemals undurchsichtige Blasen für Außenstehende leichter zugänglich zu machen. Unter anderem verstärkten diese Veränderungen das Bedürfnis nach Verteidigung, sowohl bei Außenstehenden als auch bei Insidern. Sie verstärkten auch die wahrgenommene Bedrohung, die verschiedene Blasen füreinander darstellen können.

Nun hat die Neugierde natürlich auch ihre guten Seiten. Viele meiner Blogartikel drehen sich darum, dass man Interesse für seine Mitmenschen entwickelt und dieses in Gesprächen zeigt, dass man mit offenen Augen und Ohren großen Themen wie Glaube, Bildung oder der Gesellschaft begegnet. Neugierde als Hunger, Neues zu lernen und verstehen zu wollen kann eine großer Segen und Wachtumsanstifter sein. Grob gesagt sind die neugierigen und hungrigen (nicht wortwörtlich gemeint) Schüler die interessantesten und oft auch besten Schüler.

Aber wie ein stürmisches Pferd muss meine Neugierde manchmal gezähmt werden. Ich bin in meinem Umfeld dafür bekannt, dass ich relativ viele Fragen stelle. Oft steckt wirklich ein genuines Interesse am Anderen dahinter, manchmal will ich aber auch nur all die „dirty details“ eines Falls wissen. Stelle ich zu schnelle zu viele und manchmal auch die falschen Fragen, kommen sich Leute wie in einem Polizeiverhör oder in einem journalistischen Interview vor.

Vor kurzem stellte ich einer Autorin eines Buches über die Neugierde („A curious faith„) in einer Q&A die Frage, wo für sie die Grenze zwischen guter und schlechter Neugierde liegt. Ein Teil ihrer Antwort blieb mir besonders hängen: „It’s not for me to know“ ist für sie ein Leitsatz geworden, sich nicht überall einzumischen. Es ist eine schöner-klingende Version von „Das geht mich nichts an“. Ich darf, soll und muss sogar vieles wissen und verstehen; das menschliche Suchen ist tief in uns und mir verankert. Aber ich muss nicht alles wissen und nicht jedem Impuls – sei er on- oder offline – in eine andere Welt, einen fremden Skandal oder das Drama eines Mitmenschen nachgehen. „It’s not for me to know“ mag mir vielleicht sogar helfen, ein halbwegs guter Vater zu werden. Je weniger Zeit und Energie ich in fremden Dramen verliere, desto mehr kann ich mich den kleinen und großen Menschen und Wundern in meinem Umfeld widmen 🙂

Wer vorübergehend sich in einen Streit mischt, der ihn nichts angeht, ist wie einer, der einen Hund bei den Ohren packt.

Sprüche 26,17

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