In einer gewissen Schockstarre schauten wir mit einigen Freunden nach der frustrierenden und späten Niederlage gegen Spanien den Livestream weiter – Bilder vom nachdenklichen Kroos, jubelnden Spaniern und traurigen deutschen Fans. Ein nervenaufreibendes Spiel lag hinter uns und gerade die letzten 60 Minuten sahen eigentlich ziemlich gut für uns aus – die deutsche Mannschaft machte viel Druck, erspielte sich gute Chancen, rettete sich mit einem erlösenden Ausgleich kurz vor Spielende in die Verlängerung und spielte dort munter weiter. Der nichtgegebene Handelfmeter regte uns zwar auf, aber es blieb noch eine Hoffnung auf ein Tor aus dem Spiel oder zumindest Glück im Elfmeterschießen. Als dann doch noch kurz vor Schluss der erneute Rückstand kam, war der Frust gerade für emotional involvierte Fans umso größer. 

In diesen Gefühlszustand hinein forderte der Stadionsprecher in Stuttgart die Fans nach Spielschluss auf, zur Würdigung der guten Leistungen und der guten EM-Zeit ein letztes Mal lautstark „Völlig losgelöst (Major Tom)“ mitzusingen. Soweit ich als TV-Zuschauer die Stadionakustik wahrnehmen konnte, sang jedoch fast niemand mit. Mir selbst war auch nicht danach, dieses Partylied noch einmal anzustimmen. Die Idee war zwar nachvollziehbar und sicherlich kann man mit etwas Abstand der deutschen EM Positives abgewinnen, aber der Schmerz war noch zu groß und zu frisch (so pathetisch es klingt, bei einem Sportspiel von „Schmerz“ zu sprechen). Die Fans waren eben nicht „völlig losgelöst“ von sich und ihrer Enttäuschung, eher „völlig aufgelöst“ – mir wurde von Kindern erzählt, die tatsächlich nach der Niederlage geweint haben.

An dem selben Tag des Viertelfinales hatte ich morgens noch meinen Schülern kurz vor den NRW-Ferien ihre Zeugnisse überreicht, ohne – ebenso pathetisch – sie noch einmal daran zu erinnern, dass sie mehr als ihre Noten seien, ihr Wert nicht von ihrem Notenschnitt abhängt und sie deshalb nicht zu sehr auf diesen schauen sollten. Ein besonders impulsiver und etwas enttäuschter Schüler rief danach laut in den Klassenraum: „Sagen Sie das mal meinen Eltern!“ Seine Reaktion war nachvollziehbar – was nützt dieses schöngeistige Gerede des Lehrers über die wahre Identität und den Wert außerhalb von Leistung, wenn am Ende des Tages jeder im Raum wild und lautstark seinen Schnitt vergleicht und die Eltern ihre Unzufriedenheit wahrscheinlich nicht so recht verbergen können. Frustration und Enttäuschung sind starke Gefühle, die weder durch Major Tom noch durch Mr. L. einfach so verdrängt und ausgetauscht werden können.

Ob beim Liebeskummer oder bei christlichem Lobpreis stellt sich die Frage, wie man musikalisch auf den inneren Gefühlszustand reagieren soll. Höre oder singe ich Lieder, die entweder meinen Kummer ausdrücken oder aber einen Kontrast zu ihm bilden und mich gewissermaßen von meinen Gefühlen ablenken? Im christlichen Kontext wurde schon oft kritisiert, dass man in der Gemeinde traurigen oder zweifelnden Menschen „happy-clappy“-Worship aufzwinge und das Mitsingen dieser Lieder nicht authentisch sei. Als Alternative wird dann meistens vorgeschlagen, alte und zumeist ernsthafte und traurige Hymnen wieder rauszuholen, gerne gespickt mit biographischen Ausführungen über das persönliche Leid des Liedermachers. Ich selber konnte in meinem Leben sowohl von freudigen als auch ernsten Lobpreisliedern profitieren. Sowohl Moll als auch Dur haben in mir einen Resonanzraum für göttliche und zwischenmenschliche Begegnungen geschaffen.

Eine weise Bekannte wies mich einmal bei der Frage, ob und wie Lobpreis authentisch sein kann, dass man auch durch das Mitsingen einen Wunsch ausdrückt und seine Gedanken und Gefühle bewusst anders ausrichten kann. Das Mitsingen von Liedern ist diesem Verständnis nach nicht nur das Ausdrücken des Herzens, sondern das Schaffen eines neuen Herzenszustandes.

Ich glaube, dass da was dran ist. Gefühle auszudrücken hat seinen Platz und seine Zeit, aber man sollte nicht ewig in diesem Ausdruck verweilen. Liebeskummerlieder geben dem Kummer eine Sprache, aber sie können diesen bei erhöhtem Konsum auch unnötig verstärken.

Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass wir nicht zu schnell traurigen oder anderweitig niedergeschlagenen Menschen mit positiven Liedern, Zusprüchen und sonstigen schönen Dingen überfordern sollten. „Wie einer, der an einem kalten Tag das Gewand auszieht oder Essig auf Natron gießt, so ist, wer einem missmutigen Herzen Lieder singt.“ Dieser Vers aus Sprüche 25,20 warnt davor, die emotionale Realität des Gegenübers auszublenden. Oft müssen wir uns und dem Anderen etwas Zeit geben und auch den Mut haben, negative Gefühle auszuhalten. Ich habe den Eindruck, das fällt uns zunehmend schwerer in einer durchdigitalisierten Welt, in der Emotionswahrnehmung und -vertiefung durch Aufmerksamkeitszerstreuung und Dauerstimulierung verhindert wird.

Traurigkeit oder Frustrationen sollen nicht das letzte Wort haben, mitsprechen dürfen sie aber trotzdem.


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