„Was für eine Anmaßung!“ – dachte ich mir und teilte diesen Gedanken mit Luise. Wir schlenderten gerade während unseres „Babymoons“, dem letzten gemeinsamen Urlaub vor der Geburt, durch Groningen und beobachteten das friedliche Treiben – die vielen Fahrräder – oft zu zweit besetzt –, plaudernde Spaziergänger in den engen Gassen und picknickende Familien auf den Wiesen; das alles vor der schönen Kulisse der niedlich-hübschen typisch-niederländischen Architektur – mit den kleinen verschnörkelten Häuschen mit großen Fenstern, eingereiht in gepflegte Straßen und durchdachte Infrastruktur.
„Was für eine Anmaßung, dass unser Land einmal meinte, unschuldige Länder wie dieses überfallen zu dürfen, zu zerbomben, in die Knie zu zwingen und mit unserer Kultur und gewaltsamen Ideologie zu überziehen.“ Warum ich mir während des Babymoons solche historische Gedanken machte, kann ich mir nicht so recht erklären, aber mein Hirn springt manchmal dahin, wo es will. Ich glaube aber, dieser Eindruck drängte sich auf, weil in unseren bisherigen Niederlandeurlauben (wir sind Fans) das Land so sympathisch rüberkam. Da waren zum Beispiel die stets herzlichen und redseligen Gastgeber oder Restaurantbetreiber, die auf Deutsch oder Englisch zu einem Pläuschchen bereit waren.
Heute vor 85 Jahren, als Deutschland meinte, Polen überfallen zu müssen und der zweite Weltkrieg begann, war das nicht grundsätzlich anders. Polen, Niederlande, Frankreich, Dänemark, Russland, Ungarn, Ukraine – all dies waren eigenständige Länder mit ihren ganz eigenen Dynamiken und Eigenarten – seien es Traditionen, Sprachen, gewachsenen Strukturen oder eigener Architektur. Und doch überfiel Deutschland all diese und noch mehr Länder, verletzte ihre Grenzen und begann zu zerstören, zu morden und zu vertreiben. Die berühmte Anne Frank, die mit ihrer Familie zuvor aus Frankfurt nach Amsterdam floh, war selbst dort nicht mehr sicher.
Es ist beachtlich, dass trotz dieser deutschen Aggression und Anmaßung vor einigen Jahrzehnten heute so ein reger Austausch und ein weitestgehend friedliches Treiben in Europa herrscht. Das hat viel mit der Akzeptanz von Grenzen zu tun: Der Schengenraum erlaubt zwar grenzüberschreitendes Fahren ohne Kontrollen; grundsätzlich aber werden nationale Grenzen akzeptiert. Man handelt und reist in Europa, aber es ist klar, dass die Eigenständigkeit jedes Landes gewahrt bleibt, dass die territorialen Grenzen nicht angetastet werden. Wenn es doch passiert, wie bei dem gewaltsamen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, löst das verständlicherweise Schock und Wut aus.
Ich glaube, Grenzen sind auch heute noch wichtig, um zu markieren, dass hier etwas anderes als das Gewohnte beginnt. Wenn ich mit dem Auto über eine Grenze fahre, merke ich nicht nur am Begrüßungsschild, sondern auch an den unterschiedlichen Autobahnmarkierungen, dem helleren Blauton der Schilder, den geringeren Geschwindigkeitsgrenzen, den vielen gelben Nummernschildern, die mich zu einer sichtbaren Minderheit verkommen lassen, und vielen anderen Details, dass hier jemand regiert als zu Hause. Ich spüre, dass hier etwas Neues beginnt, was trotz vieler Ähnlichkeiten zu meiner Heimat, die aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung unvermeidlich sind, trotzdem seine Eigenarten und seine Geschichte hat.
Ich glaube, die wenigsten Nazis haben das Erspüren fremder Eigendynamiken selbst erlebt. Man war zu sehr in seiner eigenen Hetze und Herrlichkeit gefangen, man ging nicht in anderen Ländern spazieren und betrachtete deren Treiben. Wäre Hitler einmal durch Groningen spaziert und hätte sich mit einigen „locals“ unterhalten, hätte er vielleicht seine Invasion nicht gestartet (wobei sein Hass und seine Ideologie dafür wohl zu tief verwurzelt waren).
Ganz genau so lief es zwar nicht ab, aber es gab tatsächlich einen General namens Choltitz, der Hitlers Befehl, „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen“, umging und es nahezu unzerstört den Feinden übergab (Artikel hierzu). Aber egal ob Legende oder Wahrheit: Ich stelle mir vor, dass die Hemmung, Schönheit zu sprengen, bei diesem Mann nur aus dem Schauen entstand. Unangemessene Grenzüberschreitungen sind weniger wahrscheinlich, wenn das Fremde zuerst wahrgenommen und gar gewertschätzt wird.
Die Angst vor Grenzüberschreitungen gibt es nicht nur im geopolitischen Bereich. Eltern haben Angst vor der Übergriffigkeit der Großeltern; Christen fürchten Pastoren und Gemeinden, die sich zu sehr in ihr Leben einmischen; Migranten sind in Sorge um gesellschaftliche und mediale Verwässerung ihrer Traditionen; Arbeitnehmer wollen nicht von ihrem Arbeitgeber vereinnahmt werden. Manche dieser Ängste können mehr mit den eigenen Erwartungen als mit Tatsachen zu tun haben. Dennoch können gerade die, die sich in Machtpositionen befinden – Lehrer, Pastoren, Eltern, Einheimische – erstmal im Schauen üben. Die würdevolle Teezerenomie eine afghanischen Familie, das laute Treiben auf einem afrikanischen Basar, die Feinheit respektvoller japanischer Höfilchkeitskultur. Sicherlich werden wir in diesem Schauen auch so manche Dysfunktionalität entdecken und können vielleicht die eine oder andere davon sensibel nach einiger Zeit ansprechen, aber der Grundmodus sollte erstmal das Schauen und Wahrnehmen der Eigendynamik und Schönheit einer kleinen Familie, einer Kultur, oder auch eines Individuums sein. Vielleicht wird der Sprengknopf dann das eine oder andere Mal weniger gedrückt.
Verrücke die uralte Grenze nicht, die deine Väter gemacht haben.
Verrücke die uralte Grenze nicht, und dringe nicht ein in das Feld der Waisen!
– Sprüche 22,28; 23,10