Eines der Dinge, die ich über Babies gelernt habe, ist, dass sie am Anfang nur schwarz-weiß und auch nur 20-30cm weit sehen. Diese Erkenntnis war schon etwas enttäuschend für mich – als unerfahrener werdender Papa stellt man sich innigen Blickkontakt mit dem Kind auf dem Arm vor, ein unausgesprochenes und vertrautes „Wir verstehen uns“. Unser Sohn mag zwar noch nicht sprechen und verstehen können, aber der Blick sagt bestimmt mehr als 1000 Worte!
Stattdessen schaute Silas die ersten Wochen, wenn seine Äuglein überhaupt denn mal offen waren, oft durch mich hindurch, als ob hinter mir ganz spannende Sachen sind, vielleicht ein großer Milchtank, der wartet, geleert zu werden. Wenn er auf dem Bett oder auf dem Boden liegt, schaut er oft zur Seite und meistens gerne da hin, wo es etwas Schwarzes zu sehen gibt. Ich habe ihm schon vieles hingehalten – ein schwarzes iPhone, eine schwarze Bibel, ausgedruckte s/w-Bilder – und seine Augen verfolgen diese tatsächlich zumindest für ein paar Sekunden, danach war das auch nicht mehr so spannend und zudem ist das Fixieren für Neugeborene wohl auch etwas anstrengend. Gerade haben wir schwarz-weiße Bettwäsche und wenn er diese morgens erblickt, können wir Eltern noch so viel „KuckKuck“ machen und lächeln bis es weh tut, die Bettdecke ist spannender als das fröhliche Gesicht von Papa oder Mama.
Es gibt übrigens auch schwarz-weiße Videos für Babies, die wir mal für ca. 25 Sekunden ausprobiert haben.
Er hat sie leicht verstört aber dennoch interessiert verfolgt, aber mit der fast halben Minute hat er seine erste Bildschirmzeit für die ersten zwei Jahre schon überschritten. 😉
Diese „Schwarz-Weiß“-Phase geht nach den ersten 2-3 Lebensmonaten allmählich vorbei und nach und nach sehen Babies schärfer, bunter und fokussierter.
Der Begriff „Schwarz-Weiß-Sehen“, der hier bei Babies als eine Art Naturbeschreibung verwendet wird, ist bei Erwachsenen stark negativ konnotiert. Wenn über jemanden gesagt wird, dass er „nur schwarz-weiß sieht“, ist das in der Regel kein Kompliment. Es gibt auch verwandte Phrasen, die ähnliches ausdrücken: „Schubladendenken“, „binäres Weltbild“ oder „unterkomplexes Denken“. Mir wurde vor kurzem vorgeworfen, ich hätte ein „dualistisches Weltbild“. Ich habe mich erstmal dagegen gewehrt, weil es nicht nur hier auf dem Blog mein Bestreben ist, möglichst ganzheitlich und differenziert zu denken. Der (atheistischen) Person ging es aber vor allen Dingen um meine Unterscheidung zwischen materieller und geistlicher Welt, mit der ich es mir wohl zu einfach machen würde. Für mich ist das Einbeziehen der nicht fassbaren, immateriellen und wissenschaftlich nicht immer beweisbaren transzendenten Welt Teil des farbenfrohes Sehens, für sie reduziere ich Unerklärliches aber nur auf Gott & Co. Diese kurze Gesprächsepisode hat mir gezeigt, wie empfindlich ich reagiere, wenn ich direkt oder implizit als Schwarz-Weiß-Denker gesehen werde. Es kränkt gewissermaßen den Teil meiner Identität, der sich daraus speist, dass ich doch belesen, breit informiert und weit gereift sei und der teilweise sogar öffentlich philosophiert und predigt. Niemand möchte den Eindruck erwecken, wie ein Baby in der unscharfen „Schwarz-Weiß-Phase“ stehengeblieben zu sein. Gerade wir Männer, die sich oft auf unsere Ratio etwas einbilden und den Welterklärer spielen wollen, sind da glaube ich besonders verletzbar.
Das habe ich auch mal auf der anderen Gesprächsseite bemerkt: Als ich in einer hitzigen Diskussion mit einem guten Freund und Trump-Sympathisant sagte, dass er auf Trumps billige Propaganda und Polemik reingefallen sei und nur die „talking points“ von ihm wiedergebe, war er ziemlich sauer und der Abend gelaufen – ich hatte einem klugen Freund suggeriert, er wäre manipuliert worden und sehe die Welt zu einfach. Ich habe mich nachher auch dafür entschuldigt, denn es war anmaßend zu beurteilen, ob und inwiefern jemand in einer Sache nur „schwarz-weiß“ sieht. Denn ein Teil der komplizierten Wahrheit ist, dass mein Freund nicht nur Überschriften liest, sondern sich tatsächlich breit informiert hatte und nur andere Schlussfolgerungen als ich aus diesen Informationen gezogen hat.
Es bleibt die Hoffnung, dass wir nicht nur im optischen Sinn mit zunehmender Lebenserfahrung mehr Grauabstufungen und Farbtöne wahrnehmen. Als Lehrer nehme ich immer wieder wahr, wie schnell einige meine Schüler zu radikalen Positionen neigen:
- Bürgergeld? Braucht man nicht, Arbeitslose sollen einfach arbeiten gehen.
- Jugendstrafrecht? Schön hart, sonst wirkt es nicht.
- Nationalsozialismus? Nicht mein Bier, ich war da ja nicht geboren.
- Unser Bildungssystem? Bringt nichts, wofür lerne ich das alles?
Erst letzte Woche hatte ich im Unterricht wieder einen Austausch, der mir Kopfzerbrechen bereitete. Es ging in Englisch um „gendered toys“, also Spielzeuge, die auf Jungs und Mädchen ausgerichtet sind. Ich habe erstmal locker gefragt, wer als Kind denn mit Lego, Playmobil, Stofftieren usw. gespielt hat. Das war noch ganz unverfänglich. Als es um Kinderküche ging, sagte ein Junge (sinngemäß): „Ne mit so einem Mädchenkram habe ich nie gespielt, ich bin ja nicht Transgender.“ Nicht nur mir, sondern glücklicherweise auch einigen seiner Mitschülern fiel die Kinnlade runter. Als ob man sein Geschlecht wechseln müsste, um eine Tätigkeit zu spielen, die später überlebenswichtig ist – die Fähigkeit, sich und andere selbst zu ernähren.
Doch wächst sich s/w-Denken einfach raus, quasi wie ein natürlicher und unumgänglicher Prozess? Wird dieser Junge in einigen Jahren dank wachsender Reife seine eigenen Söhne mit Kinderküchen spielen lassen? Ich denke nicht automatisch. Nicht jeder sieht das Wahrnehmen von Graustufen und Farbspektren als überhaupt erstrebenswert an. Nicht ganz ohne Grund: Grau und Buntheit werden oft als Chiffren für Beliebigkeit und Grenzenlosigkeit gesehen. Nicht umsonst heißt ein bekannter und kontroverser Erotikfilm „50 Shades of Grey“ und wenn Firmen ihre „Buntheit“ anpreisen, wittern einige einseitige linksgrüne Ideologie.
Vom Schwarz-Weiß-Denken ins Farbsehen zu kommen, heißt für mich auch nicht, Positionen aufzugeben und keine Aussagen mehr treffen zu können. Ich selber glaube, um an das Beispiel meines Schülers anzuknüpfen, von einigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich an die Gegebenheit und an das dynamische und teils mysteriöse Zusammenspiel der beiden Geschlechter. Gleichzeitig bin ich aber genauso davon überzeugt, dass es ein großes Spektrum an Verhaltensweisen gibt, die wir nicht geschlechtlich zuordnen sollten. Wenn ein Junge Küche spielen möchte und sich fürsorglich zeigt oder ein Mädchen Fußball spielen oder sich mal laut behaupten will, würde ich das auf keinen Fall unterbinden. Das metaphorische Farbsehen heißt für mich in diesem Kontext, erstmal wahrzunehmen, wie ein Kind ist statt nur vorzuschreiben, wie es zu sein hat. Ich bin meinen eigenen Eltern rückblickend dankbar, dass sie mich als eher sensibles und zaghaftes Kind nicht zu einem Sprung vom 5er-Brett, auf die Skifahrt auf der schwarzen Piste oder sonstigen Männlichkeits-Abhärtungsritualen gedrängt haben. Ich bin in allem etwas langsamer gewesen und habe mir nach und nach meinen Mut erarbeitet oder ihn geschenkt bekommen, ob als Skifahrer, Christ, Freund, Beziehungspartner oder Lehrer. Geduld für Entwicklungen zu haben, sowohl die eigenen als auch die der anderen, ist glaube ich Teil des Realisierens von Farbe, Schönheit und Besonderheit.
Das graduelle Farbsehen geht für mich mit einer anderen Augenentwicklung einher, die ich oben schon kurz angeschnitten habe: das Fokussieren. Anfangs können Babies kaum einen Menschen oder Gegenstand fixieren, später folgen sie deinem Finger und auch irgendwann deinen Augen. Es ist einer der Meilensteine, der für mich als beziehungsorientierter Mensch und Papa besonders wichtig ist: Blickkontakt und Fokus sind für mich nicht nur biologische Fertigkeiten, sondern Ausdruck einer wachsenden Beziehung zu meinem Sohn, deren Entfaltung ich kaum erwarten kann.
Ich glaube in dieser Entwicklung liegt für mich ein metaphorischer Schlüssel drin, den oben ausgeführten Komplikationen konstruktiv zu begegnen. Je mehr Fokus in unseren Augen ist, desto mehr können wir nicht nur wahr- und aufnehmen, sondern auch verarbeiten und lernen. Ganz konkret: Wenn ich einen Gesprächspartner fokussiert anschaue, werde ich nicht nur sein Denken verstehen, sondern vielleicht auch seine Mimik, seine Geschichte, seine Wünsche, seine Ängste und sein Ärger; Dinge, die die Augen schon oft verraten. Fokussieren kann auch bedeuten, auch wenn es ein mittlerweile abgedroschenes Thema ist, sein Smartphone gelegentlich zur Seite zu legen und die fremden Menschen unterwegs, die Grüntöne des Wiehengebirges, das klare Blau des Himmels, die rostbraunen Herbstfarben oder die Komplexität der Charaktere eines Buchs oder der Bibel wahrzunehmen. Es ist eine wunderbare Eigenschaft, dass unsere Augen fokussieren können. Gleichzeitig macht es unsere digitalisierte und schnelllebige Umgebung gar nicht so einfach, diese Fähigkeit sinnvoll einzusetzen; die Augenmuskeln zielgerichtet zu üben.
Noch sind Silas’ Augen etwas unklar und Luise und ich munkeln schon, welche Augenfarbe er wohl haben wird, wenn sie ausgewachsen sind. Aber ob sie blau-grau wie meine oder Rehaugen-braun wie Luises sind, ist mir am Ende egal. Ich freue mich, wenn er eines Tages hoffentlich die Welt in all ihrer Buntheit, Schönheit und Zerbrochenheit wahrnehmen und in den Fokus rücken kann.
Die Lampe des Leibes ist das Auge; wenn nun dein Auge klar ist, so wird dein ganzer Leib licht sein; – Matthäus 6,22
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Ich wollte dich heute nach dem Gottesdienst schon nach dem Erscheinen deines nächsten Beitrags gefragt haben… und jetzt ist er da!
Vielen Dank für die Teilhabe an deinen Gedanken und an eurem Leben!
„Geduld für Entwicklungen zu haben, sowohl die eigenen als auch die der anderen, ist glaube ich Teil des Realisierens von Farbe, Schönheit und Besonderheit.“
Ein wahrer und schöner Satz! Gott sei Dank hat Gott diese Geduld auch mit uns, denn er weiß als Schöpfer um all das, was er in uns hineinlegte: diese Schönheit, Farbe und Besonderheit :-))
Danke liebe Gitta! 🙂 Ja heute konnte ich mir endlich mal ein wenig Zeit fürs Schreiben nehmen!
Danke für den Verweis auf Gottes Geduld mit uns und auch den Gedanken des „Hineinlegens“ von ihm. Das finde ich sehr hilfreich und schön und ich bin mir sicher dass er sich daran freut, wenn wir wachsen und uns entfalten 🙂 Auf bald!
> Es kränkt gewissermaßen den Teil meiner Identität, der sich daraus speist, dass ich doch belesen, breit informiert und weit gereift sei und der teilweise sogar öffentlich philosophiert und predigt.
Wow, der Satz trifft erstaunlich akkurat…
schön formuliert 🙂
Danke für die Reaktion lieber Aaron 🙂 Sicherlich nicht alle Männer aber ich glaube gerade die eher intellektuell-geneigten wollen auf gar keinen Fall uninformiert, verblendet o.ä. erscheinen. Ich habe mal gehört, dass neben „Es tut mir leid“ einer der kürzesten schwierigen Sätzen für uns der folgende ist: „Ich weiß es nicht“ 🙂
Trotzdem schönes und spannendes Lernen dir demnächst nicht nur im Uni-Umfeld 🙂