Wir sind am Ende der „black week“ und die Anbieter überschlagen sich wieder mit Super-Sonderangeboten. Die Datierung des Black Fridays einen Tag nach Thanksgiving scheint mir erneut kurios. Da wird gestern noch die Dankbarkeit für das zelebriert, was man bereits besitzt und genießt, und schon am nächsten Tag wird genau diese Dankbarkeit dadurch angegriffen, dass Gelüste nach Dingen geweckt werden, die man zur Zufriedenheit angeblich noch braucht.
Technische Begierden wecken Firmen wie Apple, deren Design- und Marketingabteilung es immer wieder schafft, nahezu magisch anziehende Produkte zu präsentieren, die angefasst und genutzt werden wollen. Eine Werbung, die nicht nur mich vor ein paar Monaten besonders irritiert hat, ist ihre iPad-Werbung „Crush!“:
Eine Platte drückt kreative Objekte – Farbe, Skulpturen, Musikinstrumente – herunter und quetscht alles so sehr, dass am Ende ein leuchtendes iPad herauskommt. Apple wollte wohl kommunizieren, dass ein kleines iPad das Kreativitätspotential der ganzen Welt in sich trägt. Die Botschaft, die bei vielen Betrachtern aber ankam: Technologie bedroht Kreativität; zumindest Kunstschaffende, z.B. deren Jobs durch automatisch generierte Musik oder andere KI-Tools gefährdet wird.
Nun nutze ich Technologie und auch KI selbst recht exzessiv. Erst vor kurzem habe ich für meine Klasse einen KI-Song erstellen lassen, der die Eigenarten der Klasse auf peppige Weise karikiert. Das Ergebnis sorgte für viele Lacher und wäre vor ein paar Jahren für einen unmusikalischen Menschen wie ich nicht denk- und realisierbar gewesen.
Obwohl ich die Möglichkeiten der Technik liebe und mein Gehalt nicht von der Kunstproduktion abhängt, löst die Bildsprache der Werbung in mir ein gewisses Unbehagen aus: Ein grauer dunkler Raum, eine unbarmherzige Schrottpresse, die sinnlose Zerstörung von so vielen schönen, bunten, greifbaren analogen Objekten, wovon das letzte „überlebende“ ein ängstliches emoji-Gesicht ist. Diese einminütige Werbung drückt nicht nur Dinge platt, sondern das aktuelle Momentum der postmodernen hypertechnologisierten Gesellschaft aus. Wir leben in einer Zeit, in der es kein Entrinnen von der digitalen Schrottpresse gibt: Erstarrte Blicke auf iPads im Klassenzimmer, Algorithmus-basierte und zeitfressende Feeds auf nahezu allen Plattformen, eine erodierende Diskussionsbasis aufgrund tückischer und hochwirksamer Desinformationsinhalte, Künstliche Intelligenz zum Greifen nah bei jeder anstrengenden Denk- und Schreiboperation, 24/7-News- und Notification-Bombardement, eine erdrückende Dominanz vom Gaming in der Pubertät von fast allen meinen „Schuljungen“.
Als ich gestern meinem eigenen kleinen Jungen in die Augen schaute, wie er wild auf der Wickelmatte strampelte, erstaunt das Spucktuch schmeckte und vergnügt gluckste, hatte ich einen kurzen Moment sowohl der Gerührtheit als auch der Ohnmacht: noch ist sein Leben ganz einfach-analog, er schaut überrascht herum, und ist Luise, mir und unseren Lieben unvermittelt zugänglich und greifbar. Doch ich weiß, dass die digitale Schrottpresse auch vor meinem Silas kein Halt machen wird. Neulich beim Elternsprechtag beklagte eine Mutter sich bei mir darüber, dass sie keinen Zugang zu ihrem 15-Jährigen Jungen mehr finde. Alles außer Zocken und ein bisschen Sport ist ihm völlig egal. Selbst wenn Fortnite nur eine Phase ist, wird er auch später als Erwachsener von einer Welt umgeben sein, die ihn auf andere Weise in einen Sog ziehen kann, der ihn weniger zugänglich macht zu seiner Mutter und sich selbst.
„Nützt ja nichts“, wie wir in Ostfriesland zu sagen pflegen. Die großen Trends sind unumkehrbar und Kulturpessimismus und Technikfeindlichkeit sind langfristig nicht hilfreich, um in dieser Welt zurechtzukommen und zu florieren. Aber manchmal kann ein eindrücklicher Werbespot dabei helfen, einmal innezuhalten und wahrzunehmen, welche Prozesse – sei es der Konsum in der black week oder die erdrückende Allgegenwärtigkeit der Technik – auf uns wirken und in welchem Maße und auf welche Weise wir uns diesen persönlich aussetzen möchten und – besser noch – wie wir selber produktiv aktiv werden können. Die Kraft der Kreativität wird dann entfaltet, wenn ich etwas ergreife – sei es einen Buntstift, Apple Pencil, eine Gitarre, Tastatur oder einen Gedanken, der mich plagt oder eine Frage, die mich neugierig macht – und beginne zu gestalten: ein Kunstprodukt, eine Unterrichtsstunde, ein Dinner-Abend, ein Lego-Haus. Kreativität ist nicht nur auf Kunst beschränkt, sie beginnt immer da, wo wir selber zu denken, zu fühlen und zu machen wagen; wo wir einen Zugang suchen zu etwas noch nicht ganz Greifbarem; da, wo wir versuchen die Welt in 3D zu erfassen. Ein zweidimensionales Tablet oder Smartphone muss dieser Art der Kreativität nicht im Wege stehen und kann sie sogar erweitern, aber unbedacht benutzt ziehen diese Geräte uns mehr in den Konsum als ins Schaffen.
Einen Zugang zu bewahren zu können zur bunten und kreativen Welt außer- und innerhalb von mir; sowohl zu meinem Körper als auch zu meinen Kumpels; zu meinen Gedanken als auch zu Gott; zu meiner Seele und zu meiner Schaffenskraft; das ist eines der größten Herausforderungen für mich und vermutlich für viele andere. Aber es lohnt sich diese Herausforderung anzugehen und sich und seine Freude nicht zerquetschen zu lassen.