Vor ein paar Tagen verabredeten Luise und ich uns mit einer Mutter eines Babies, welches fast gleich alt wie unser Silas ist und gingen an einem kalten Wintertag spazieren. Mitten auf dem Weg hielt sie an, hielt ihren Jungen hoch und ließ ihn in einen Busch pinkeln. Dieses Abhalten sah ich zum ersten Mal in Aktion und war etwas verduzt. Ich fand im Gespräch auch noch heraus, dass sie neben dem windelfreien Großziehen eine Hausgeburt durchführten und auf Schnuller verzichten. Passenderweise heißt ihr Sohn auch noch Adam – der als erster Mensch in der Bibel mindestens genauso natürlich großgeworden sein muss. Im Vergleich dazu kam mir unsere Geburts- und Babyerfahrung fast schon entfremdet vor: Unser Sohn kam – bedingt durch einige Komplikationen – in einer sogenannten Level-1-Klinik umringt von vielen Ärzten und piependen Maschinen zur Welt, machte von Anfang an bis heute regelmäßig die Windeln voll und freut sich, wenn er am Schnuller etwas zu saugen hat. Ich sehe zwar die Vorteile von einer vertrauten Geburtsumgebung, einem windelfreien Haushalt und einem schnullerlosen Großwerden; aber dennoch würde ich auf keines der komfortablen Segnungen der Moderne verzichten wollen, da sie das Einleben und Erleben in dieser Welt sicherer und entspannter gemacht haben.
Nur zwei Tage später ging ich mit einem neuen Bekannten zu einer Art weihnachtlichen Kinovorstellung: „The Chosen“ zeigte in einem Weihnachtsspecial, wie sich die Geburt Jesu aus Sicht eines Hirten und von Maria und Josef visuell abgespielt haben könnte; was in und auch zwischen den Bibelversen aus Lukas 2 passierte bzw. passiert sein könnte. In der öffentlichen und auch meiner persönlichen Wahrnehmung hat die Weihnachtsgeschichte was sehr heimeliges und gemütliches. Der Stall in Bethlehem mit seinen süßen Tieren und dem Heu könnte heute fast als AirBnB-Urlaub für eine besonders naturnahe, sinnliche und kuschelige Reise-Experience für Großstädter durchgehen.
Doch die visuelle Darstellung des ersten Weihnachten machte mir deutlich, dass diese Geburt – wie so viele in der Antike – gefährlich, angsterfüllt und unbequem sein musste. Hier drei Beispielclips:
1.) Als Maria und Josef den Stall betreten, mussten sie – zumindest interpretieren es die Chosen-Macher so – wahrscheinlich erstmal Dreck wegmachen und das „Beistellbett“ vorbereiten:
2.) In einer anderen intensiven Szene drückt Maria ihre Angst kurz vor der Geburt aus und bittet Josef darum, Hilfe zu holen:
3.) Die eigentliche Geburt zeigt rohe Emotionen, schwitzende Eltern und eine erste Säuberung mit einer einfachen Wasserlösung:
Diese Szenen verdeutlichen, welche intensiven Emotionen bei einer antiken Geburt ohne Schmerz- und Hilfsmittelmittel, PDA, ärztliche Begleitung, Notkaiserschnittsoption und bei einer deutlich höheren Muttersterblichkeit als heute dabei gewesen sein musste: Mütter hatten bei einer Geburt ein ziemlich hohes Risiko (manche sprechen von etwa 10%), zu sterben. Dass Maria in der zweiten Szene sagt, sie habe solche Angst, ist trotz dem himmlischen Zuspruch, keine Angst haben zu müssen, mehr als verständlich.
Doch intensive Emotionen gibt es auch noch bei Geburten in der Moderne – trotz hoher medizinischer Standards. Als Luise und ich kurz vor der Geburt im Kreißsaal waren, hörten wir aus den Nebenzimmern solche archaische Schreie, wie ich sie noch nie gehört habe. Die gebärenden Frauen schrien so sehr ihre Seele aus ihrem Leib, dass es mir kalt den Rücken runterlief. Kreißsäle sind mit vielen süßen Fotos oft niedlich und liebevoll eingerichtet und die Hebammen und Ärzte strahlen Zuversicht, Kompetenz und Ruhe aus; aber all das kann nichts daran ändern, dass Geburten potentiell schmerzvoll, intensiv und angsteinflößend sind.
Zu wissen, dass Jesus durch einen Geburtskanal intensiver Emotionen gegangen ist, dass seine eigene Mutter schrie und schwitzte, dass er in keiner luxuriös-komfortablen Umgebung geboren ist und vom ersten Lebensschrei an wusste, wie sich das Leben als körperlicher Mensch mit Bedürfnissen wie Hunger und Schlaf anfühlt, gibt mir das Gefühl, verstanden zu sein und auch ein Ja zu den Ängsten, schwierigen Lebensbedingungen oder sonstigen Problemen zu finden, die wir trotz aller Privilegien immer noch haben. Ich selbst habe zwar auf manche Weihnachtskarte schon den bekannten Zuspruch aus Lk 2,10 „Habt keine Angst. Ich verkündige euch große Freude.“ geschrieben und meine es auch so, aber ich glaube es ist trotzdem okay, sich die Ängste erstmal einzugestehen, bevor sie einem genommen werden. Es ist ebenso verständlich, wie Maria in der Szene auf menschliche Hilfe zu hoffen, obwohl man am Ende doch alleine durch etwas Schweres durchmuss. Es ist wichtig, die Leiblichkeit nicht nur vom Christkind theologisch oder kognitiv anzuerkennen, sondern auch seinen eigenen Körper mit seinen Bedürfnissen, Gebrechen, Narben und Schönheiten wahr- und anzunehmen.
Mein erstes Weihnachten als Vater war wunderschön, gesellig und liebevoll. Im Moment lächelt, beobachtet und schläft Silas viel und in der Familie wurde er abwechselnd herumgereicht, gestreichelt und gedrückt. Nicht immer ist das Leben intensiv, nicht jeder Tag ist eine Geburt. Manche Lebensphasen sind tatsächlich heimelig, gemütlich und schön. Doch wenn dann doch mal wieder eine schwere Geburt oder sonstige große Herausforderung ansteht, weiß ich, dass jemand ansprechbar ist, der mich als Mensch versteht.
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der kein Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem versucht worden ist in ähnlicher Weise wie wir.
Hebräer 4,15