In jüngster Vergangenheit war ich öfters gefordert, den „Charakter“ oder das „Wesen“ eines mir kostbaren Menschen herauszuarbeiten. Für die Beerdigung meines Opas, den 60. Geburtstag meines Vaters und auch für eine anstehende Hochzeit habe ich Reden oder kleine Theaterstücke vorbereitet, die in komprimierter Form davon erzählen sollen, was ich denn konkret an einem Menschen schätze und was ihn genau ausmacht. Um nicht in Allgemeinplätze wie „Du bist der beste Papa der Welt“ (ich frage mich immer, wie das logisch möglich sein soll ;-)) oder „Ihr seid einfach ein wunderbares Paar“ zu verfallen, muss man einmal konkreter werden, bohren, in seinen Erinnerungen kramen, alte Fotos durchschauen und reflektieren, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an jemanden denke.
🤔Charakterisierungen – wie überhaupt?
Diese Aufgabe ist gar nicht immer so einfach – egal wie toll die andere Person ist. Was macht denn nun jemanden aus? Eine Liste von tugendhaften Eigenschaften – gastfreundlich, gesprächig, humorvoll, gewissenhaft, aufopferungsvoll…? Sind es vielleicht die skurrilen Eigenarten, die wir alle haben? Oder sind es eher konkrete Erfahrungen, die ich mit einer Person verbinde – der eine Urlaub, das lange Gespräch, kleine Gesten und Blicke? Vielleicht lahm, aber wahr: Ich glaube alles. Denn oftmals lernen wir bestimmte Eigenschaften und Eigenarten ja erst in konkreten Lebenserfahren kennen!
🗄Schubladendenken?
Aber kann man Menschen auf ein paar Attribute reduzieren? Ist ein Mensch nicht viel vielschichtiger als bloß „freundlich“ oder „offen“? Ich bin doch mehr als meine Kurz-Bio rechts im Blog?! Und verändern sich Menschen nicht ständig? Sicherlich. Dennoch glaube ich, dass es eine gute, lohnenswerte und Freude-schenkende Übung ist, eine Person zumindest annähernd zu beschreiben, quasi einen gedanklichen Schnappschuss zu machen. Ähnlich verhält es sich mit Kultur- und Länderbeschreibungen – sie sind immer nur eine Annäherung, machen aber doch, wenn sie bedacht und wohlwollend verfasst sind, das Besondere und das Schöne deutlich.
👴 Ein persönliches Beispiel
Als ich beispielsweise einen Sketch für meinen Papa vorbereitet habe, musste ich zunächst an eine seiner markantesten Eigenarten denken – seine Kontaktfreudigkeit – auch gegenüber Fremden. Egal wo Papa ist, keiner ist vor seinen Smalltalk-Fragen sicher. Auch wenn das manchmal etwas peinlich anmuten kann, ist es doch eine sehr schöne, bereichernde und bei uns eher seltene Eigenschaft. Als meine Schwester, ihr Freund und ich Papas unverfrorene Annäherungsversuche nachgemacht haben, mussten sowohl er als auch viele Gäste herzhaft lachen; vermutlich, weil sie ihn darin wiederentdecken konnten. Sogar mir selbst hat es Freude gemacht, die tollen Eigenschaften meines Vaters an meine Bewusstsseinoberfläche zu holen und möglichst amüsant zu verpacken.
👋✍️Mehr als nur flotte Grüße
Die allermeisten Menschen freuen sich, wenn sie treffend beschrieben, parodiert oder wertgeschätzt werden – egal ob im privaten oder öffentlichen Rahmen. Wenn wir bei der nächsten Geburtstagskarte mehr schreiben als nur „Alles Gute (und Gottes Segen)“ und auch ein paar persönliche (=den Charakter betreffend) Worte mit einfließen lassen, dann zeigen wir dem Empfänger, dass wir uns Gedanken über sie machen, sie bewusst wahrnehmen und als besonderen, einzigartigen Menschen wertschätzen. Aus Mangel an Zeit, Disziplin oder Muße schaffe ich das leider auch nicht immer, aber zumindest bei guten Freunden und Verwandten ist es mein Anspruch, sich beim Schreiben etwas Mühe zu geben…
🏫Charakterisierung in der Schule – zwischen Ideal und Wirklichkeit
Zur Zeit bringe ich meinen Englischschülern bei, Romanfiguren möglichst treffend und differenziert zu charakterisieren, eine für Schüler oftmals recht mühselige Analyseaufgabe. Auch hier muss man aufmerksam sein, hier und da zwischen den Zeilen lesen und sinnvolle Schlussfolgerungen ziehen. Doch wenn ich so drüber nachdenke, ist es eigentlich eine ziemlich sinnvolle, ja fast schon erzieherische Aufgabe. Eine Figurencharakterisierung ist nicht nur Analyse um der Analyse willen, sondern das Einüben einen scharfen Blickes und eine Bewusstmachung für die Vielfältigkeit menschlichen Verhaltens und Seins. Zugegeben, die tatsächlichen Charakterisierungen der Schüler können gegenüber meinen gerade ausgeführten allzu idealistischen Vorstellungen ernüchternder ausfallen. Da werden manchmal allzu schnell auch negative Labels wie „faul“ oder „arrogant“ verteilt, die Begründungen dazu fallen teils mager aus. Aber dennoch hat Schule, wenn man genauer hinschaut, prinzipiell viel mehr mit dem Leben zu tun, als es meine Gegenüberstellung im Titel („in der Schule und im Leben“) anmuten lässt.
Ps 139, 14: Ich danke dir dafür, dass ich erstaunlich und wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und meine Seele erkennt das wohl!
… zu guter letzt: lieber andere charakterisieren als sich selbst 🇺🇸😀😉
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