Dies ist der Beginn einer dreiteiligen Serie über 12 Lektionen über Umzüge und Umgebungswechsel.
Teil 2: Soziales Einleben
Teil 3: Engagement, Entschlossenheit und Wehmut
Heute vor genau einem Jahr habe ich einen wehmütigen Beitrag über den Wegzug aus meiner Studentenstadt Münster geschrieben. Rückblickend erscheint mir der Artikel etwas sentimental. Das Leben ging weiter, ganz praktisch: Umzug nach Minden, Einrichtung, Einleben, Arbeiten, Kennenlernen, Besuche und so weiter. Meinem früheren ich würde ich sagen: Stell dich nicht so an, pack die Kisten aus und schau nach vorne – wird schon. Aber das lässt sich rückblickend leicht sagen: nicht allzu selten bügelt man in der Rückschau komplexe reale Emotionen glatt, gerade wenn im Nachhinein „noch alles jut jegangen ist“. Aber diese „Altersempathie“ für scheinbar längst vergessene Herausforderungen aus früheren Jahren ist Thema für einen anderen Post.
Und doch muss die Wehmut zwangsläufig der Wirklichkeit weichen – das Leben muss ja tatsächlich weitergelebt werden. In dem letzten Jahr mussten wir vieles angehen und haben einiges dabei gelernt. „Und jetzt, haben wir uns in Minden gut eingelebt?“ Diese Frage wird uns verständlicherweise oft gestellt. Die kurze Antwort ist: „Grundsätzlich ja“ – aber weil die Lebensrealität eines Ankommensprozess facettenreich ist, dient dieser Beitrag quasi als eine Art erweiterte Antwort auf diese Frage. Nach 12 Monaten Minden teile ich hier mal 12 Erkenntnisse, die nicht nur Umziehende betreffen. Nach vielen teils eher essayistisch-nachdenklichen Blogbeiträgen ist der folgende also vergleichsweise konkret, lebenspraktisch und bildreich:
1. Umzug lehrt Demut
Wer in eine neue Stadt zieht, fängt erstmal wieder klein an. Während wir in Münster sozial betrachtet aus dem Vollen schöpfen konnten, mussten wir hier erstmal „kleine Brötchen backen“. Nach dem Gottesdienst oder einem Kulturevent kaum Ansprechpartner zu kennen, ist erstmal anstrengend – es kostet Mut und Überwindung, auf Menschen zuzugehen und sich auf fremde Gesprächspartner einzulassen. Sich mangels Vertrautheit erstmal ein wenig „präsentieren“ und „beschnuppern“ zu müssen bietet zwar Gestaltungs- und Gesprächspotential, zieht aber auch Energie. Es ist ein wenig wie Dating – am Ende hängt öfters die Frage in der Luft, ob es noch ein 2. Date geben soll, ob man Nummern austauscht oder lieber seiner Wege zieht. Ich musste mich ein paar Mal echt überwinden, nach guten Erstkontakten leicht überhastet und manchmal auch etwas unsicher zu fragen: „Hey, das war echt cool! Hättest du Lust sich nochmal zu sehen? Wollen wir vielleicht Nummern austauschen?“ Und diese Nummer tatsächlich auch eines Tages anzuschreiben oder anzurufen, braucht auch Initiative und eine Portion Demut. Da die meisten Ostwestfalen hier schon seit Jahrzehnten verwurzelt und entsprechend „connectet“ sind, fühlte ich mich teilweise wie eine Art Bittsteller gegenüber sozial-gesättigten Menschen. Diese vielen kleinen „Demutsübungen“ haben mir aber gut getan und mich mehr in Gebet und aus der Komfortzone getrieben.
2. Informiere dich
Eine der besten Entscheidungen in unserem Ankommensjahr war es, das Mindener Tageblatt zu abonnieren. Ich lese die Online-Ausgabe aus „Gesundheitsgründen“ zwar nur 2x die Woche, aber das reicht, um über die Vorkommnisse und Events in der Stadt up-to-date zu bleiben. Ich glaube wir sollten alle ein wenig mehr Lokalzeitung lesen. Es geht zwar nicht immer um die große Weltbühne, aber um das Leben vor der Haustür: um die verbrannte Schaukel beim nächsten Spielplatz, das Weserschwimmen, das trubelige Schnurrviertelfest oder – ein amüsantes Highlight aus dem letzten Monat – der Stadtrat, der Probleme mit der Kaffeemilch hat:
„Komplizierter ist offenbar die Sache mit der Milch. Die kleinen Plastik-Päckchen zum Aufreißen sind vielen ein Dorn im Auge. Die Verwaltung hat bereits versucht, einen umweltfreundlicheren Weg zu finden: „Hier sollte schon vor geraumer Zeit auf größere Gebinde umgestellt werden. Leider steht im Anschluss an die stattfindenden Sitzungen kein Personal zur Verfügung, welches die restliche Milch in die Kühlung stellen kann“, heißt es aus dem Rathaus dazu. Auch den Sitzungsteilnehmern sei diese Aufgabe nicht zuzumuten, findet die Stadt. So kam es dazu, dass im Anschluss an Sitzungen „größere Mengen Milch verdorben“ seien. Das sei moralisch nicht tragbar und auch nicht wirtschaftlich.“ (Mindener Tageblatt, 8.9.23)
Kommunalpolitik ist leider öfters etwas träge, aber immerhin ist sie nah- und greifbar. Mit dem Chefredakteur hatte ich schon etwas Austausch, den Bürgermeister habe ich beim 24h-Lauf getroffen und manche Effekte – Straßenarbeiten oder neue Bushaltestellen, sieht man sofort auf dem Arbeitsweg. Ein wenig „im Stadtgespräch“ zu sein hilft, sich mehr als Stadtbürger zu begreifen und diese Rolle anzunehmen. Auch Christen tun gut daran, sich nicht nur in Bubbles zurückzuziehen, sondern „Studenten“ ihres Ortes und ihrer Kultur zu sein.
3. Nutze die Angebote
Um die Mindener Kulturangebote zu verstehen, dient „die Birke“ als stellvertretendes Beispiel. Die Birke ist das derzeit einzige Kino Mindens und ist bei uns um die Ecke. Es hat oft nur zwei Filme gleichzeitig laufen – einen für Kids, einen Programmfilm für Erwachsene. Einmal, als war wir „Im Taxi mit Madame Madeline“, der parallel zu „Asterix“ lief, schauen wollten, verwunderten wir uns über die Anzeigetafel vor dem Kino. Dort stand „Taksi“. Ich war mir nicht sicher, ob ich eine neue Rechtschreibreform verpasst hatte, und so fragte ich den einzigen Mitarbeiter nach dem Grund dieser Schreibweise: „Nun, parallel läuft ja der Asterix-Film und wir hatten kein zweites x“.
Minden bietet zwar nicht das Überangebot einer Großstadt. Aber es bietet etwas sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Die Auswahl ist manchmal begrenzt, aber wenn man die Augen offen hält, findet man immer wieder kleine und große Highlights. Wir haben in den letzten Monaten beispielsweise bei einem Improtheater im Bürgerzentrum „BÜZ“ herzhaft gelacht, beim Kneipenquiz als Lehrerteam kärglich versagt, einer spannenden Lesung zur Schizophrenie gelauscht, Flohmarkt-Schnäppchen gemacht, beim wöchentlichen bring&share der Stadtteilarbeit „Simeonsherberge“ mitgegessen, ein famoses Musicalspektal („Singin’ in the rain“) in der schönen Freilichtbühne am Berg betrachtet, historische Reenactments gesehen, mit hunderten Menschen in der Weser geschwommen, den Bundeswehrpionieren beim Brückenbau zugeschaut, und erst Donnerstag kam der Wirtschaftsrevoluzzer Nico Paerch in den prallgefüllten Audimax der FH und erklärte in einer Ringvorlesung die „Postwachstumsökonomie“.
Einen kleinen Wermutstropfen hat die ganze Sache jedoch: Einige der aufgezählten Angebote waren zwar gut besucht, viele aber nicht. Gerade bei kulturellen Veranstaltungen, selbst denjenigen, die für junge Leute zugeschnitten sind, kommt eher älteres Publikum und auch nicht in riesengroßer Zahl. Es scheint mir, dass die jungen Familien alle eingespannt sind und die Azubis, FH-Studenten und anderen jungen Leute ihr Privatglück oder anderes im Sinn haben. In Münster habe ich gar nicht schrecklich viele Events besucht, aber die waren fast immer prallgefüllt. In der Rückschau merke ich noch einmal besonders, wie stark eine Uni eine Stadt prägen kann. Aber auch hier will ich eher mutig nach vorne schauen. Immerhin konnten wir oft Freunde oder Kollegen einladen und mitnehmen und zusammen ein paar tolle Dinge erleben. In vielen kleinen Städten gibt es (auch dank öffentlicher Förderung) mehr Angebote als man denkt, aber es ist schade dass sich viele scheinbar aus dem öffentlichen Leben eher ausklinken müssen oder wollen.
4. Minden ist schön – besonders als Gastgeber
Zugegeben, Minden hatte bei mir keinen leichten Start, weil es in meiner Biographie mit dem „schönen Münster“, wie es oft zusammenhängend genannt wird, in große Fußstapfen treten musste. Aber je länger ich hier lebe, desto mehr entdecke ich kleine Schönheiten. Die Weser und das Wasserstraßenkreuz, das umliegende Gebirge mit einem großen Denkmal, die kleinen Fachwerkhäuser in der Innenstadt, das grüne Glacis um die Stadt herum, der botanische Garten, der Nordfriedhof, Badeseen und einiges mehr. Es gibt leider auch Leerstand und einige verranzte Ecken, aber das bleibt in diesen schnelllebigen Zeiten oft nicht aus.
Eine Aktivität, die mein Ästhetikempfinden gegenüber Minden gesteigert hat, ist das Gastgebersein. Durch das Beherbergen und Herumführen von Leuten habe ich einerseits das Staunen Anderer vernommen, andererseits wurde mein Blick selbst auf das Schöne und nicht auf das Fehlende gerichtet. Mein Papa, ein begeisterter Heimat- und Radtourenguide, ist mir in dieser Hinsicht ein großes Vorbild. Als Naturliebhaber, Menschenfreund und ehemaliger Vertreter schafft er es immer wieder, neben landschaftlichen Highlights selbst die ödesten Ecken Ostfrieslands in den schönsten Farben zu malen. Ein bisschen habe ich mir das Rumführen und Anekdotenerzählen von ihm abgeschaut und tatsächlich wirkt es auch bei mir selbst.
Nun, nach vier Lektionen ist meine Schreib- und eure Lesenergie sicherlich erschöpft. Selbst bei praktisch-orientierten Posts gelingt es mir wohl nicht so recht, mich kurz zu fassen. 😉 Daher kommen die nächsten acht Punkte in den nächsten Wochen in Folgepost(s). Bis dahin wünsche ich gutes Ankommen, Lernen und Staunen, dort wo ihr lebt und hingestellt seid!
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Nachdem ich das gelesen habe, möchte ich nach Minden ziehen. Gute PR für Minden
Ha ich glaube das wäre dir etwas zu klein, die Musikszene ist nicht sehr groß 😉 Aber komm gerne mal vorbei 🙂
Ha, das mit der Demut ist sehr passend! Man kann den Leuten ja noch so viel erzählen, was für ein toller Hecht man in seinen früheren Stationen war. Man ist trotzdem erstmal ein Niemand für sie. Ich habe das auch so erfahren, das einen das mehr zum Gebet bringt. Vielen Dank für deine tollen Artikel Sebastian.
Was ich noch fragen wollte:
„Meinem früheren ich würde ich sagen: „… Muss man das „ich“ nicht groß schreiben? Also „Ich“?
Danke dir! Wenn ich richtig informiert bin, hast du aber noch einen sehr viel größeren Umzug Richtung Ausland gemacht, oder? Großen Respekt davor!
Zur anderen Frage: „ich“ schreibt man meines Wissens nach immer klein, anders als das englische „I“, was immer großgeschrieben wird. Ich habe aber mal „früheren ich“ gegoogelt, das schreiben tatsächlich einige groß. Liegt vielleicht daran, dass das ein Sonderfall ist und man quasi ein Nomen adressiert.
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