Mein lieber Junge,

nun bist du mit der Schule fertig und die Welt steht dir offen. Meinen herzlichsten Glückwunsch dazu – was für eine Wegstecke du nun schon geschafft hast! Leider wirst du nun quasi gezwungen, direkt die nächste Wegetappe zu gehen und das kann – ich spreche aus Erfahrung – so richtig, richtig schwer sein. 

ich möchte dir in diesem Zuge einen Vorschlag mitgeben, von dem ich mir damals gewünscht hätte, dass ich ihn wahr- und ernstgenommen hätte. Mir wurde damals vieles geraten, was den Berufsweg betrifft: Studiere, was dir Spaß macht, setze deine Talente ein, entdecke dich selbst und vieles mehr. So ein Rat hat auch seinen Platz und einen gewissen Wert. Aber wozu mir fast niemand gesagt hat, war die Frage, wo ich all das Spaßhaben, Entfalten und Lernen machen soll. Was den Wohnort angeht, habe ich folgenden Vorschlag: Ich empfehle dir, nicht weiter als etwa 200km wegzuziehen. Studiere oder lerne was du willst, entscheide ob WG, Wohnheim oder Wohnung und suche dir eine Stadt aus, die dich anspricht. Aber achte darauf, dass sie nach Möglichkeit in einem Radius von 200km oder 2-3 Fahrstunden entfernt ist. 

Warum, fragst du dich? Warum 200km? Dazu muss ich etwas ausholen und erzähle mal, wie die Ortswahl bei mir war: Mir stand nach dem Abi jede Stadt offen: Oldenburg, Bremen, Hannover, Münster, Bochum, Mannheim, Gießen und viele mehr. Damals bin ich von Emden nach Münster gezogen, weil ich es schön fand und die Stadt und Uni einen guten Ruf hatten. Münster ist etwa 200km und eine Bundeslandgrenze weit weg gewesen, oder, was für mich wichtiger war, etwa 2 Zugstunden und ein kostenpflichtiges Niedersachsenticket entfernt. Zwei Zugstunden kann man mal für einen Wochenbesuch fahren, sogar ein Tagesbesuch war manchmal für mich und meine Eltern drin. Aber 2 Stunden sind auch weit genug weg, dass man nicht mal eben nach Hause fährt und man gezwungenermaßen ein neues Leben in der neuen Stadt anfängt – neue Leute, neue Gemeinde, neue Straßen, neue Möglichkeiten, neue Aufgaben. Manchmal habe ich Leute beneidet, die mal eben zum Kaffeetrinken kostenlos mit ihrem Semesterticket nach Hause gefahren sind oder ihre alten Schul-, Fußball- oder Kirchenfreunde öfters wiedergesehen haben. Manchmal war ich aber auch stolz darauf, dass ich so viele neue liebe Menschen in Münster kennengelernt habe und ohne Navi schon so viele Orte anfahren und besuchen konnte. 

Münster wurde mir schnell lieb – ich liebte die Offenheit der Menschen, das Gefühl von Möglichkeit in der Luft, die Lebendigkeit in der City, die Internationalität, das Radfahren an der frischen Luft und die kurzen Wege und natürlich die Freunde und alles, was mit ihnen zusammenhing: Treffen, Geburtstage, Feiern, Junggesellenabschiede, Hochzeiten, kleine Abenteuer, gemeinsame Erfahrungen. Nach ein paar Jahren war Münster meine neue Heimat geworden. Der Ort, wo ich nach einem Urlaub gerne hin zurückkam und auch der Ort, der meine alte ostfriesische Heimat, wo Oma und Opa wohnen, als mein soziales Zentrum verdrängte. 

Aber die Unizeit ging irgendwann vorbei und dann kam eine Phase, wo sich die Wege zwischen meinen Freunden, Kommilitonen und mir zunehmend aufsplitteten und trennten. Einige zog es dort hin, wo sie einen Job oder einen Refplatz fanden; andere blieben in Münster wohnen; viele zogen in ihre Heimat zurück. Mit Ende 20 oder Anfang 30 – manchmal auch früher, manchmal noch später, manchmal auch gar nicht – beginnt bei vielen Menschen eine Lebensphase, in der Familie wichtig wird. Kinder, Oma und Opa, Geschwister, Tanten und Onkels. Vielleicht kannst du dir das noch gar nicht so richtig vorstellen, aber nach all den Entdeckungen in den 20ern wollen Menschen irgendwann Wurzeln schlagen: eine eigene Familie haben, ein Häuschen bauen, im Garten spielen. 

Und jetzt kommt mein Vorschlag ins Spiel: Wenn man – meistens zum Studium – weit weggezogen ist und sich dann dort wohlfühlt und sich etwas aufgebaut hat, dann wird man vor einer schwierigen Entscheidung gestellt, die egal wie man sie trifft immer Nachteile mit sich zieht. 

    • Entweder bleibe ich in der schönen Unistadt bei meinen Freunden und Orten, die mir ans Herz gewachsen sind, habe dafür aber nicht die Eltern und vielleicht auch Geschwister und Freunde aus der Heimat in der Nähe, die unser Kind mal beaufsichtigen, begleiten und sich an ihm freuen können. Ebenso könnte ich dann die ältere Generation – in diesem Fall wären das wohl wir, aber ich spreche nicht aus egoistischen Motiven, glaub mir – nicht so gut begleiten und unterstützen, wenn ich immer weit fahren muss. 
    • Oder aber ich ziehe in die Heimat oder in deren Nähe zurück, um den Generationenaustausch mehr zu pflegen; nehme dafür aber den Verlust meiner liebgewonnenen neuen Stadt und den Beziehungen vor Ort in Kauf. 

Wenn man jedoch nach einem Ort gezogen ist, der nicht allzu weit von der Heimat entfernt ist, kann man sowohl alte als auch neue Kontakte, Freundes- und Familienbeziehungen pflegen. Deine Tante Sarah hat das zum Beispiel so ähnlich gemacht, als sie von Emden nach Oldenburg gezogen ist. Sie hat ein neues, schönes und reiches Leben in Oldenburg, kann aber auch mal für einen Nachmittag innerhalb einer Stunde bei Oma und Opa sein. 

Vielleicht denkst du dir, das ist alles weit weg und an eigene Kinder und an kranke Eltern möchtest du noch gar nicht denken. Das kann ich gut verstehen und das wollte ich damals auch nicht. Das Ding ist nur: Wenn du Anfang 30 bist und vor der oben genannten Entscheidung stehst, ist es eigentlich zu spät. Du kannst dich dann zwar immer noch neu erfinden und umziehen, wohin du willst, aber auch das wird seinen Preis haben. Das Gefühl, dass du an einem Ort vertraut und vernetzt bist, kann man nicht von heute auf morgen aufbauen. Der Ort, wo du jetzt hinziehst, kann das Potential haben, dass er dir kostbar wird. Und je kostbarer er dir wird und je weiter er weg von Zuhause ist, desto mehr wird es dich zerreißen, wenn du vor der Frage stehst: Entweder alte oder neue Heimat.

Bei diesem Thema gibt es tausend Abers:

  • Aber was ist denn, wenn ich die Heimat doof finde und da sowieso nicht hin zurück will? Wenn ich dort schlechte Erfahrungen gemacht habe?
  • Aber was ist, wenn ich meinen Traumberuf nur in München oder Stuttgart lernen kann? 
  • Aber was ist, wenn ich ganz viel Abstand zu meinen Eltern oder zur Familie brauche und gar nicht so viel Nähe möchte?
  • Aber vielleicht gefällt mir die neue Heimat sowieso nicht und ich ziehe sowieso nochmal um,
  • Aber vielleicht habe ich ja Lust daran, ganz woanders zu leben, womöglich sogar im Ausland. Deutschland ist mir eh zu kalt und reserviert!
  • Aber ich habe eh vor, nur zum Studium wegzuziehen und nach 3 Jahren wiederzukommen. Da ist der Wohnort doch egal, es ist nur eine kurze Phase.

Ja, das ist alles möglich. Ich spreche ja auch nur bewusst von einer Empfehlung. Entscheiden und leben musst du alleine. Was ich mit diesem Brief nur erreichen möchte ist, dass du dir über die Tragweite so scheinbar kleinen Entscheidungen wie des Studien- oder Ausbildungsorts bewusst bist. Diese Tragweite kann erdrücken, das weiß ich. Aber in der Welt scheint es so, als ob immer alles möglich ist, als ob wir alle nur frei und flexibel machen und wohnen können, wie wir wollen. Theoretisch stimmt das sogar: Du hast Bewegungs- und Wahlfreiheit und das ist weltgeschichtlich gesehen ein großes Privileg.

Aber ein Leben, welches diese Freiheiten maximal ausnutzt, geht nicht selten mit Nebenwirkungen einher: vor allen Dingen dem Gefühl von Entwurzelung und Zerrissenheit. Entwurzelt und zerrissen habe ich mich selber oft dann gefühlt, wenn ich lieben Menschen nach einem schönen Treffen Tschüß gesagt habe und die geographische Distanz mit jeder Zugminute und jedem Autokilometer fühlbarer wurde.  Oder als du geboren wurdest und es für meine Schwestern aufgrund der Entfernung ein großer Akt war, dich zu besuchen und kennenzulernen. Ich habe diese Nebenwirkungen moderner Freiheit gespürt, als ich gehört habe, wie andere Familien, die vor Ort geblieben sind, jede Woche einen Omatag haben, wo alle jüngeren Enkel sich zusammen treffen und für ein paar Stunden Spaß haben. Ich spüre Zerrissenheit und Entwurzelung auch bei anderen Freunden, die hin- und herüberlegen, wo sie nun ihre Zelte aufschlagen, wo ihr Kind zur Kita oder Schule gehen soll, ob und wo man ein Haus kaufen soll und was letztlich eine fruchtbare Umgebung für die Zukunft ist.

Die erste Zugfahrt für ein Kind oder das erste eigene Auto für einen Jugendlichen sind anfangs noch spannend. Moderne Mobilität verspricht, die eigenen sozialen Kontexte nahezu mühelos miteinander zu verbinden. Doch das ist langfristig ein Trugschluss. Spätestens wenn du zum x-ten Mal im Stau stehst, an irgend einem Bahnsteig im kalten Winter auf einen verspäteten Zug wartest oder die Sprit- und Zugpreise wieder so exorbitant gestiegen sind und jeder Besuch ein zeitliches, finanzielles und energietechnisches Investment ist, wünscht du dir, dass du alles an einem Ort hast: Freunde, Familie, Job, Gemeinde, Verein, vielleicht noch ein bisschen Kultur und Natur. Diesen Zustand herzustellen ist heutzutage gar nicht so einfach, aber tatsächlich kann ein Schritt in diese Richtung sein, nicht unnötig weit wegzuziehen.

Komplett vermeiden lassen sich Zerrissenheit und Entwurzelung nie so ganz. Selbst wenn man ein Leben lang am gleichen Ort wohnen bleibt, verändert sich dieser Ort: Freunde ziehen weg, Menschen sterben, Kirchen gehen ein und Wehmut nach verpassten Möglichkeiten mag emporkommen, wenn andere ihr Glück woanders suchen. Ich selber bin dankbar, dass ich nicht mein Leben lang in Emden geblieben bin. Münster und später Minden haben mich stark geformt und sogar „belohnt“. Weniger sentimentale und nachdenkliche Typen als ich kommen vielleicht sogar damit ganz gut klar, woanders als bisher zu leben. Aber ich glaube trotzdem, dass man sich grundsätzlich so manches Herzeleid erspart, wenn man nicht ans andere Ende der Welt oder Deutschlands zieht (es sei denn, man spürt einen klaren Ruf dorthin). Die Wehmut, die trotzdem deswegen bleibt, weil keine Entscheidung in dieser Moderne das vollkommene integrierte, verwurzelte und ganzheitliche Leben bringt, was wir uns wünschen, diese Wehmut führt dich vielleicht zu Jemanden in die Arme, der Gestern, Heute und Morgen zusammenhält und uns ein Leben verspricht, welches nicht mehr durch Vergangenheit und Zukunft auseinandergerissen wird. 

Egal, wie du dich entscheidest und ob du näher oder doch weiter als 200km wegziehst: solange es uns möglich ist, wollen wir eine kleine Basis sein, zu der nach deinen Expeditionen zurückkehren kannst, selbst wenn es nur für ein Wochenende ist.

Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und auch in Ewigkeit! Hebräer 13,8


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