Manche Werbespots schaffen es, innerhalb kürzester Zeit viel Story, Lebensgefühl und Botschaft zu vermitteln. Die folgende Volvo-Werbung ist ein solcher. Vor dem Weiterlesen empfehle ich, die vier Minuten im Vollbildmodus zu investieren und bis zum Ende zu schauen:

Dieser Spot spricht mich nicht nur an, weil ich Vater geworden bin, sondern auch aufgrund der vermittelten Lebensweisheit, die in der Hast des Lebens und Handelns schnell untergeht: All die Momente, in denen etwas nicht passiert ist, haben unser aktuelles Leben oft nicht nur entscheidend geprägt, sondern vielleicht sogar erst ermöglicht. Nur ein paar km/h, Millimeter oder Millisekunden Unterschied entscheiden manchmal über Leben und Tod.

Als ich klein war, bin ich einmal fast fast ertrunken. Ich war in einem ostfriesischen Badesee und lief einem Mädchen hinterher in mein Unglück, nämlich dem Schwimmerbereich. Kurze Zeit später konnte ich nicht mehr stehen, wusste aber auch nicht, wie ich mich über Wasser halten konnte und strampelte panisch. Ich sprach schon mein letztes Gebet, als doch plötzlich meine Mutter und später ein Bademeister kam, die mich gerade aus dem Wasser zogen. Vor einigen Jahren fuhr ich mit einem Fahrrad fullspeed gegen eine plötzlich geöffnete Autotür und wachte erst im Krankenwagen wieder auf, kam aber nochmal glimpflich davon.

Ich fahre zwar fast jeden Tag an der damaligen Unfallstelle vorbei, aber ich denke trotzdem nicht allzu oft an diese Bewahrungsepisoden wie diese. Ich glaube es ist auch verständlich, dass wir trotz der Knappheit mancher Lebenssituationen eher im hier & jetzt leben und es trotz der Faktenlage nicht so richtig fassen können, wie glücklich und dankbar wir dafür sein können, überhaupt leben zu dürfen. „Was-wäre-wenn“-Szenarien können zwar kurz anregen, bleiben aber letztlich schwer zu greifen und können und sollten wahrscheinlich auch nicht zu lange im Vordergrund stehen.

Heute morgen hörte ich beim Frühstück in einer Podcast-Episode die Frage einer resignierten Frau aus Amerika an einen Pastor, ob es sich überhaupt lohnt, für Schutz und Bewahrung zu beten, nachdem ihr eigenes 5-jähriges Kind im Gartenpool ertrunken ist. Kurze Zeit später kamen heute am ersten Schultag 2025 drei meiner Schüler zu spät zum Unterricht, weil ihr Schulbus in einen Überholunfall verwickelt war, wodurch es mehrere Verletzte gab.

Ich habe keine Antwort auf die Frage der Frau, aber in mir hallt noch ein bekanntes Lied nach, welches wir erst kürzlich am Silvesterabend sangen:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

„Von guten Mächten“ ist ein so unglaublich paradoxes Lied, weil Bonhoeffer als Schreiber dieser Zeilen in Gestapo-Haft war und mit einer baldigen Hinrichtung rechnen musste. Seine Verlobte Maria konnte er nicht sehen, sein Bruder war gefallen. Er war eigentlich nur von bösen Mächten umgeben und von „Behütung“ konnte in Nazi-Deutschland keine Rede sein.

Was er mit den guten Mächten meint, schreibt er aus dem Gefängnis in einen Brief an seine Verlobte Maria:

Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. – Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer 1943–1945. S. 208

„Großes unsichtbares Reich“ trifft es gut: Ich kann Bewahrung nicht fassen, sowohl wenn sie stattfindet als auch wenn sie ausbleibt. Die Bewahrung, die erlebt wird, ist schnell vergessen und verdrängt und die, die ausbleibt, wirft oft Fragen und Zweifel auf. Bonhoeffer wurde kurz vor Kriegsende noch gehängt. Und doch will ich festhalten daran, dass es sie gibt und dass wir sie jeden Abend und jeden Morgen brauchen. Wenn mein Kind nachts ganz leise atmet, wenn ich morgens aufstehen kann, wenn wir Weihnachten alle zusammen feiern konnten, wenn ich mir Gedanken machen kann und darf über Gewohnheiten, Häuser und Freunde dann will ich das alles nicht für selbstverständlich nehmen. Und wenn dann doch etwas passiert (und das wird es früher oder später in irgendeiner Form), glaube ich macht es trotzdem einen Unterschied, ob man sich wie Bonhoeffer bis zu diesem Punkt getragen wusste.

Am Ende des Gottesdienstes und des Tages und meines Lebens will ich daher mit ausgestreckten Armen und geöffneten Händen den vertrauten Segen, den wir schon so oft hören, neu erwarten und dir und mir zusprechen:

Der Herr segne dich und behüte dich;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. – 4 Mose 6,24-26

Das Original-Gedicht von Bonhoeffer (Dezember 1944)


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1 Kommentare

  1. carsten

    Danke für diesen Impuls und dem Anteil geben an deinem Erleben. Das Video ist bewegend und zeigt, wie schnell sich Dinge ändern können. Obwohl wir es nicht wollten, sind dann Entscheidungen plötzlich nicht mehr änderbar. Doch vor dem Ende, sollte Jeder sehen, wo er bleibt. Ich bleibe bei Jesus
    Beste Grüße Carsten

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